Herne. Die Kindertagesstätte Unser-Fritz-Straße ist für den Deutschen-Lesepreis nominiert. Leiterin Gabriele Kosierkowski spricht über das Kita-Konzept.

Die städtische Kindertagesstätte an der Unser-Fritz-Straße gehört zu den Nominierten für den Deutschen Lesepreis 2023. Einrichtungsleiterin Gabriele Kosierkowski erläutert im Gespräch mit WAZ-Redakteur Tobias Bolsmann den Ansatz der Kita.

Frau Kosierkowski, es gab rund 400 Bewerbungen für den Deutschen Lesepreis 2023. Sind Sie überrascht, dass Ihre Einrichtung in der engeren Auswahl für den Preis ist?

Ja. Und wir sind stolz, dass wir in der Kategorie „Hervorragende Sprach- und Leseförderung“ unter den ersten zehn sind. Die Jury wird im November die ersten drei Plätze festlegen. Die Nominierung ist für uns eine zusätzliche Motivation und eine Bestätigung der täglichen und engagierten Arbeit meiner Kolleginnen. Und es ist eine Bestätigung dafür, dass wir das Richtige tun.

Seit wann tut Ihre Kita denn „das Richtige“?

In unserem Stadtteil ist die Vielfalt der Familien sehr groß, wir haben in der Kita 27 Nationen. Deshalb besteht für uns die Herausforderung, wie man allen Sprachen und Kulturen, wie man Kindern und Familien, die der deutschen Sprache noch nicht mächtig sind, begegnet. Oder wie man Kindern begegnet, die wenig Sprachanreize bekommen. Wir sind seit 2016 eine sogenannte Literaturkita. Wir haben uns damals dafür entschieden, weil wir den Lese- und Sprachbereich weiter ausbauen wollten. Das Konzept sieht vor, dass wir sehr nah an den Kindern und Familien arbeiten.

Gabriele Kosierkowski, Leiterin der städtischen Kita Unser-Fritz-Straße, ist stolz darauf, dass die Kita für den Deutschen Lesepreis 2023 nominiert ist.
Gabriele Kosierkowski, Leiterin der städtischen Kita Unser-Fritz-Straße, ist stolz darauf, dass die Kita für den Deutschen Lesepreis 2023 nominiert ist. © FUNKE Foto Services | Bastian Haumann

Wie sieht diese Arbeit konkret aus?

Wir wollen eine breite Palette an Erlebniswelten schaffen, damit Kinder möglichst viele Sprachanreize bekommen. Viele Eltern und Kinder kannten zum Beispiel die Spielplätze in der Umgebung nicht. Deshalb haben wir eine Erkundung im Stadtteil gemacht und den Wald als Lernort mit einbezogen. Die Kinder haben aus dieser Erfahrung Fantasien entwickelt und zum Beispiel gesagt, dass man im Wald Angst bekommt, weil es dunkel ist. Die Folge: Die Kolleginnen haben das Buch „Der Grüffelo“ in ihre Arbeit eingebunden. Die Kinder haben es vorgelesen bekommen und als Theaterstück noch einmal nachgespielt. Darüber hinaus gibt es in jeder Gruppe eine Bücherecke, damit die Kinder jederzeit Zugang zu Büchern haben, wir haben zusätzlich unsere große eigene Bücherei, wir nutzen Projekte der Stadtbücherei oder besuchen den Bücherbus, der zur Zeit an der Laurentiusschule hält. Wir haben eine Kooperation mit der Bücherbande, es kommt auch regelmäßig eine Lesepatin in die Kita.

Bei 27 Nationalitäten in der Kita: Welche unterschiedlichen Zugänge gibt es zum Lesen?

Das variiert stark. Wir stellen fest, dass viele Kinder und Familien das Thema Lesen erst durch uns intensiv kennenlernen und Bücher als festen Bestandteil des Alltags wahrnehmen, andere haben schon viel Erfahrung mit Büchern oder alternativen Medien. Beim Vergleich von Literatur lernen wir große Unterschiede kennen.

Hannah schaut sich die Bücher in der kleinen Bücherausstellung an, die die Kita regelmäßig präsentiert.
Hannah schaut sich die Bücher in der kleinen Bücherausstellung an, die die Kita regelmäßig präsentiert. © FUNKE Foto Services | Bastian Haumann

Bedeutet bei Ihnen die Heranführung an Bücher und ans Lesen, dass die Kita ausschließlich an deutschsprachige Literatur heranführt?

Nein. Wir haben Bücher in mehreren Landessprachen, einige Mitarbeiterinnen sprechen mehrere Sprachen, manche Eltern sind auch bereit, Bücher in ihrer Sprache mitzubringen und vorzulesen. Wir haben zudem eine Polylino-App, die über 800 Bücher in mehr als 57 Sprachen enthält. Die Sprachen, die wir in der Kita haben, können wir auch bei Büchern anbieten. So funktioniert ja der Zugang zum Lesen: Kinder müssen eine Geschichte erst verstehen, damit sie Freude am Lesen entwickeln. Das muss nicht zwangsläufig in Deutsch sein. Über diesen Weg kann das Lesen und Vorlesen zu Hause zum Ritual werden.

Wie ist dieses Ritual in den Familien verankert? Es gibt ja die These, dass früher mehr vorgelesen wurde.

Ich glaube auch, dass früher mehr vorgelesen worden ist. Das bekommen wir von Eltern, aber auch von Mitarbeiterinnen gespiegelt. Das liegt aber auch daran, dass es inzwischen diverse andere Möglichkeiten gibt, um das Lesen für Kinder attraktiv zu machen.

Müssen Sie manche Eltern zunächst selbst fürs Lesen begeistern oder gar heranführen?

Tatsächlich gibt es auf Grund der verschiedenen Nationalitäten Eltern, die nicht Lesen und Schreiben können. Auch dafür haben wir Lösungen, wie etwa das Arbeiten mit Bildkarten.

Sie bieten in Ihrer Kita viele Lese- und Sprachanreize. Aber wie nachhaltig ist dieser Ansatz mit Blick auf den Übergang in die Grundschule?

Wir haben eine sehr gute Kooperation mit den umliegenden Grundschulen und erhalten von den Schulleitungen das Feedback, dass man es merkt, was wir hier tun.

Inwiefern?

Weil die Kinder einen großen Wortschatz haben und viele Dinge schon kennen. Die Schulen berichten uns, dass Kinder aus unserer Kita großes Interesse und Freude haben, beim Lesen mitzuwirken.

Vor wenigen Tagen ist eine Studie veröffentlicht worden, die einem stattlichen Anteil von Viertklässlern Defizite beim Lesen bescheinigt. Wie sehen Sie diese Erkenntnis aus der Perspektive der Kita?

Fast drei Jahre Corona sind an den Kindern eben nicht spurlos vorbeigegangen. Wenn Kinder und Eltern nicht gut mitgenommen werden, wird es schwierig. Solche Defizite sind die Folgen.

Mussten Sie nach der Pandemie mit Ihrem Konzept wieder neu ansetzen?

Wir mussten nicht neu ansetzen, aber wir mussten uns Alternativen einfallen lassen. Wir haben in den Zeiten des Lockdowns versucht, die Kinder zu Hause zu erreichen. Wir haben Kindern Buchpakete nach Hause gebracht, auch Bastelmaterial. Wir haben den Vorschulkindern Aktionsmappen vorbereitet, damit sie trotz allem gut auf die Schule vorbereitet werden. Die Kolleginnen haben wöchentlich die Kinder angerufen und Geschichten am Handy vorgelesen. Auf diese Weisehaben wir über 80 Prozent der Eltern und Kinder erreicht.

Jetzt ist die Nominierung an sich ja schon eine Auszeichnung. Sehen Sie trotzdem noch Entwicklungspotenzial für ihr Konzept?

Selbstverständlich, man kann sich immer weiterentwickeln. Dazu gehört auf jeden Fall das Thema Digitalisierung. Wir arbeiten seit rund eineinhalb Jahren an unserem Konzept und haben uns in dieser Hinsicht weitergebildet. Wünschenswert wäre für jede Gruppe ein Tablet, schließlich sind sie später Bestandteil des Schulunterrichts. Wir wollen uns mit den Kindern und Eltern gemeinsam auf den Weg machen, damit solche Instrumente als sehr wertvoll zum Lernen entdeckt werden.

>>> DER DEUTSCHE LESEPREIS

■ Der Deutsche Lesepreis zeichnet seit 2013 innovative und bewährte Leseförderungsmaßnahmen aus und sucht jedes Jahr herausragende Menschen, Maßnahmen und Projekte in den Feldern, die dazu beitragen, eine Kultur des Lesens zu erhalten und zu fördern.

■ Initiatoren des Lesepreises sind die Stiftung Lesen und die Commerzbank-Stiftung.