Herne. Im Februar 2022 erhob das „Team Walllraff“ auf RTL Vorwürfe gegen ein Herner Pflegeheim. Nur die Spitze des Eisbergs? Was inzwischen bekannt ist.
Ungenießbares Essen, schwere Baumängel: Ein TV-Bericht auf RTL mit Vorwürfen gegen den Betreiber des Herner Pflegeheims Flora Marzina hat im Februar Schlagzeilen gemacht. Von den Krankenkassen festgestellte Missstände in der Einrichtung, zahlreiche Ortstermine der städtischen Heimaufsicht mit Erteilung von Auflagen sowie ein Bericht Angehöriger legen nahe, dass diese Vorwürfe nur die Spitze des Eisbergs waren und es zuvor wesentlich schwerere Mängel gegeben hatte. Aus der Politik wird nun der Ruf nach mehr städtischen Kontrollen in Herner Pflegeeinrichtungen laut.
Der RTL-Bericht und die Reaktionen
Über zu wenig und ungenießbares Essen sowie zum Teil katastrophale Wohnbedingungen klagten Bewohnerinnen und Mitarbeitende der Flora Marzina an der Heidstraße in Wanne gegenüber dem RTL-Magazin „Team Wallraff - Reporter undercover“. Der Enthüllungsjournalist Günter Wallraff besuchte das Pflegeheim inkognito und kam zu einem ähnlichen Ergebnis, wie in dem am 10. Februar 2022 zur Primetime auf RTL ausgestrahlten Bericht deutlich wurde.
Die Emvia Living Gruppe (Hamburg) – sie betreibt neben der Flora Marzina rund 60 Pflegeheime – wies die Vorwürfe gegenüber der RTL-Redaktion sowie später bei einem Ortstermin mit der WAZ zurück. Der frühere Heimleiter sprach von „tendenziöser und unanständiger Berichterstattung“. Die Grundsanierung der 1959 eröffneten Einrichtung sei längst eingeleitet worden, doch durch einen massiven Wassereinbruch im Mai 2021 sei es zu erheblichen Schäden gekommen.
Die Stadt führte am Tag nach der RTL-Ausstrahlung eine Kontrolle in der Flora Marzina durch. Ergebnis: Die Heimaufsicht könne die vom „Team Wallraff“ konkret erhobenen Vorwürfe nicht bestätigen. Vor allem auf Initiative der Grünen befasste sich auch der Herner Sozialausschuss in mehreren Sitzungen mit dem Heim.
„Schwerwiegende Defizite“ in der Qualitätsprüfung
Ein im Internet unter anderem im AOK-Pflegenavigator dokumentierter Bericht zeigt auf, dass der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) und die Stadt bei einer gemeinsamen Prüfung bereits im Februar 2021 schwerwiegende Mängel in der Flora Marzina festgestellt hatten. In der Untersuchung – dieses Instrument hat 2019 das Schulnotensystem bei der Bewertung von Pflege abgelöst – wurden in sechs von 13 Kategorien „schwerwiegende Qualitätsdefizite“ unter anderem in den Rubriken Unterstützung bei der Körperpflege und der Medikamenteneinnahme sowie bei der Wundversorgung ermittelt; in zwei weiteren Bereichen wurden „erhebliche Qualitätsdefizite“ festgestellt.
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Zum Vergleich: Für andere Herner Pflegeeinrichtungen zum Beispiel des DRK oder des privaten Betreibers Protea Care wurden in fast allen der 13 Kategorien Bestwerte vergeben. Und auch das ebenfalls von Emvia Living betriebene Seniorenheim Koppenbergs Hof schnitt bei der letzten Qualitätsprüfung im September 2017 wesentlich besser ab als die Flora Marzina.
Nach WAZ-Informationen hat es im Heim an der Heidstraße 2021 insgesamt acht Kontrollen, (Anlass-)Prüfungen und Nachkontrollen gegeben – eine Dichte, wie es sie in den vergangenen zehn Jahren in keiner anderen Herner Einrichtung gegeben habe, so die Stadtverwaltung auf Anfrage.
Stadt: Mängel wurden nach und nach beseitigt
Die in der „Qualitätsprüfung“ im Februar 2021 festgestellten Mängel seien nach Kenntnis der Heimaufsicht nach und nach komplett beseitigt worden, berichtet die Stadt.
Die Anordnung der Komplett-Schließung eines Heims – bei einer anderen Emvia-Einrichtung in Brandenburg steht diese derzeit im Raum – sei in dem bestehenden abgestuften System nur die Ultima Ratio, also das allerletzte Mittel, und komme in der Praxis so gut wie nie zum Tragen, sagt Hernes Sozialdezernent Johannes Chudziak im Gespräch mit der WAZ. Zuvor griffen andere Instrumente wie konkrete Anordnungen oder ein Aufnahmestopp. Inhaltlich dürfe sich die Stadt aus rechtlichen Gründen nicht näher zu Kontrollen und Maßnahmen in der Flora Marzina äußern. Es sei aber festzustellen, dass die Leitung „bei der Abstellung von Mängeln fortlaufend und kooperativ mitgewirkt“ habe.
Pflegeheimbetreiber führt Probleme auf die Pandemie zurück
Eine Sprecherin der Emvia Living Gruppe verweist auf Anfrage der WAZ darauf, dass die von Heimaufsicht und MDK im Februar 2021 festgestellten Mängel geprüft und erforderliche Maßnahmen eingeleitet worden seien. „Eine wesentliche Ursache lag in der damaligen zweiten Pandemiewelle, die sowohl Bewohnerinnen und Bewohner als auch Mitarbeitende getroffen hatte“, heißt es. Die beanstandeten Punkte „wurden und werden schrittweise und systematisch abgebaut“. Aktuell lebten knapp 90 Menschen in der (ursprünglich auf 140 Menschen ausgerichteten) Flora Marzina. Und: Die Sanierung des Hauses liege „im Zeitplan“ und werde „Schritt für Schritt bis 2025 vollzogen“, so die Sprecherin der Gruppe.
Kritik an der Stadt und Ruf nach mehr Informationen
Die Herner Grünen-Stadtverordnete Dorothea Schulte erhob zunächst den Vorwurf, dass die Stadt die Politik auf Anfrage in nicht öffentlicher Sitzung nur lückenhaft über das Ausmaß der damaligen Probleme in der Flora Marzina informiert habe. Michael Niedballa, Abteilungsleiter der städtischen Heimaufsicht, sprach im Nachgang gegenüber der WAZ von einem „Missverständnis“. Fakt ist: Inzwischen ist der Ausschuss über alle Untersuchungen und Prüfungen in der Flora Marzina informiert worden.
Die derzeitigen Kontrollinstrumente der Heimaufsicht reichen nach Einschätzung von Sozialdezernent Johannes Chudziak grundsätzlich aus. Und: Die aktuell vier Herner Mitarbeitenden dieser Abteilung könnten den Vorgaben des Gesetzgebers über die Häufigkeit von Überprüfungen der Pflegeeinrichtungen – Regelkontrollen alle zwei Jahren plus anlassbezogene Überprüfungen nach Hinweisen – gerecht werden, so Niedballa.
Den Grünen reicht das längst nicht aus. Die Ratsfraktion wünscht sich grundsätzlich mehr Informationen über die Situation in Herner Pflegeheimen und stellt einen entsprechenden Antrag in der Sitzung des Sozialausschusses am Mittwoch, 21. September: Die Heimaufsicht der Stadt solle künftig „mindestens zweimal jährlich über die Begehungen in Pflegeeinrichtungen sowie über Beschwerden von Bewohner*innen und Angehörigen“ berichten, so die Forderung. Bislang legt die Heimaufsicht dem Sozialausschuss alle zwei Jahre einen allgemeinen und anonymisierten Bericht über die Ergebnisse der Untersuchungen vor.
Erfahrungsbericht von Angehörigen
In der Mai-Sitzung des Sozialausschusses gab es – auf Vorschlag der Grünen – bereits einen Angehörigen-Bericht. Ein Herner (Name der Redaktion bekannt) berichtete der Politik über die negativen und „furchtbaren“ Erfahrungen, die er und seine Frau in den rund acht Monaten gemacht hätten, in der ihr Schwiegervater bzw. Vater in der Flora Marzina betreut worden war.
Die zuvor bereits in einem (der WAZ vorliegenden) mehrseitigen Brief an die Heimleitung aufgeführten Kritikpunkte sind vielfältig. Ein zentraler Vorwurf: Der Umgang mit ihrem an Demenz leidenden Angehörigen sei alles andere als fachgerecht gewesen, erklärte das Ehepaar und führte zahlreiche Beispiele an. Auch der Personalmangel sei ein großes Thema. Darunter litten nicht nur die Bewohnerinnen und Bewohner, betont der Herner im Gespräch mit der WAZ, sondern auch engagierte Mitarbeitende, die es sehr wohl gebe.
Nach der außerordentlichen Kündigung ihrerseits in der Flora Marzina brachten sie den Vater/Schwiegervater in ein anderes, ebenfalls privat betriebenes Pflegeheim in Wanne-Eickel unter. „Wir kamen vom Regen in die Traufe“, berichten sie. Die Zustände seien dort fast noch schlimmer als in der Flora Marzina gewesen. Nach einigen Monaten zogen sie im Dezember 2021 die Reißleine, holten den Demenzkranken nach Hause und pflegen ihn seitdem mit professioneller Unterstützung selbst. Wie die Grünen fordert das Herner Ehepaar aufgrund seiner Erfahrungen mehr Transparenz und vor allem Ehrlichkeit beim Umgang mit der Situation in Pflegeheimen.
>>> Zweifel an Profitorientierung in der Pflege
Mindestens in einem Punkt gibt es große Schnittmengen zwischen der Stadt und den Grünen. Wie Ratsfrau Schulte stellt auch Sozialdezernent Johannes Chudziak grundsätzlich die Profitorientierung in der Pflege in Frage. Seine persönliche Meinung bringt der im Januar 2023 zum Landschaftsverband Westfalen-Lippe wechselnde Sozialdezernent so auf den Punkt: „Die Pflege sollte eigentlich kein Bereich sein, in dem im großen Umfang Geld verdient wird.“ Diese Aufgabe müsste von der Allgemeinheit erbracht werden.
Und noch etwas stellt Chudziak in Frage: „Man müsste sich grundsätzlich mal unterhalten, ob das doppelte System mit der Heimaufsicht der Stadt und dem Medizinischen Dienst der Krankenkassen zielführend ist.“