Herne. Ungenießbares Essen, schwere Baumängel – so berichtete RTL über das Herner Pflegeheim Flora Marzina. Was Beteiligte zu den Vorwürfen sagen.

Das Essen – „ungenießbar“ und viel zu wenig, die Wohnbedingungen – teilweise „katastrophal“: Ein TV-Beitrag des RTL-Magazins „Team Wallraff – Reporter undercover“ über das Wanner Seniorenheim Flora Marzina hat Wellen geschlagen. Die WAZ verschaffte sich vor Ort ein Bild und sprach mit Beteiligten: Was der private Betreiber und Bewohnerinnen der Einrichtung an der Heidstraße sagen, zu welchen Ergebnissen die städtische Heimaufsicht kommt und welche politischen Reaktionen es gibt.

Der Beitrag des „Teams Wallraff“ auf RTL

Über eklatante Missstände in der Flora Marzina und in drei weiteren deutschen Pflegeheimen berichteten der bekannte Enthüllungsjournalist Günter Wallraff und sein Team in der am 10. Februar zur Primetime auf RTL ausgestrahlten Sendung. Ein „Hilferuf einer Bewohnerin“ hatte das RTL-Magazin auf die Wanner Einrichtung aufmerksam gemacht. Im Dezember besuchte Günter Wallraff (79) inkognito das Heim. Er sprach mit der Bewohnerin Rosemarie Dürselen und zwei Mitarbeitenden.

Günter Wallraff recherchierte für RTL inkognito im Herner Pflegeheim Flora Marzina.
Günter Wallraff recherchierte für RTL inkognito im Herner Pflegeheim Flora Marzina. © Screenshot | loc

Die 87-jährige Bewohnerin beklagte sich über die Bedingungen in dem Heim und insbesondere über bauliche Mängel, zu wenig Personal sowie die schlechte und nicht ausreichende Verpflegung. Manchmal habe sie nach (per Foto dokumentierten) kargen Mahlzeiten noch Hunger, berichtete sie. Das Gemüse sei nicht selten verkocht, Bananen gebe es nur einmal in der Woche, so Dürselen. Zwei (von RTL anonymisierte) Mitarbeitende des Heims berichteten unter anderem, dass die Portionen halbiert würden, wenn das Essen nicht reiche. Sie hätten auch schon selbst Essen für die Bewohnerinnen und Bewohner gekauft.

Das Essen - schlecht und zu wenig, so der im RTL-Beitrag mit solchen Fotos untermauerte Vorwurf.
Das Essen - schlecht und zu wenig, so der im RTL-Beitrag mit solchen Fotos untermauerte Vorwurf. © Screenshot | loc

Ähnlich hart fiel ihr Urteil über den baulichen Zustand aus. „Das Haus muss eigentlich komplett renoviert werden“, sagte ein Mitarbeiter. Und: Duschen seien zum Teil nicht funktionstüchtig, Wasserschäden müssten repariert werden. Fotos und Filmaufnahmen untermauerten die Einschätzung, dass im Heim riesiger Sanierungsbedarf besteht. Sie wünschten sich, so ein Mitarbeiter, „dass die Bewohner endlich so leben können, wie sie es verdient haben und nicht so, wie es am kostengünstigsten ist.“

Schließlich: In dem Beitrag berichtete das „Team Wallraff“, dass der Heimbetreiber Emvia Living alle Vorwürfe zurückweise. Und: Mit Millioneninvestitionen sollen die bereits vorliegenden Baupläne umgesetzt werden, um das Haus schrittweise zu sanieren und zukunftsfähig zu machen, so die von RTL übermittelte Botschaft von Emvia.

Ortstermin im Pflegeheim

Nach der Sendung veröffentlichte das in Hamburg ansässige Unternehmen (siehe Kasten) eine Stellungnahme und meldete sich bei der WAZ Herne. Das Angebot: Die Redaktion könne sich vor Ort in der Wanner Einrichtung selbst ein Bild machen, was in dieser Woche auch geschah.

„Der RTL-Beitrag ist tendenziös und unanständig. Er wird den Menschen, die hier leben und arbeiten nicht gerecht“, sagt Thorsten Wichert, Gebietsleiter von Emvia Living im Ruhrgebiet und zuvor selbst Heimleiter des Hauses in Wanne. Das sei ihnen nach der Ausstrahlung der Sendung auch aus der Bewohnerschaft sowie von Mitarbeitenden und Angehörigen gespiegelt worden. Warum zwei Mitarbeitende sich vor der Kamera ganz anders geäußert haben, könnten sie sich nicht erklären.

Zur Verpflegung: Das in der hauseigenen Küche („das haben nicht alle Einrichtungen“) frisch gekochte Essen sei ausreichend und qualitativ in Ordnung. In der Sendung gezeigte Fotos hätten unter anderem Teller kurz vor dem Abräumen gezeigt. Stichwort Gebäude: „Wir sind uns der Herausforderungen bewusst und unternehmen hier immense Anstrengungen“, sagt Wichert. Die Sanierung sei im vergangenen Jahr eingeleitet worden. Bis 2025 soll das Heim für rund 19 Millionen Euro renoviert, umgebaut und erweitert werden, so die Emiva-Pläne. Im Mai 2021 sei es jedoch über das Dach zu erheblichen Wassereinbrüchen gekommen. Verantwortlich dafür seien die Marseille Kliniken als vorheriger Betreiber der Einrichtung, betont Wichert.

Emvia-Mitarbeiter Thorsten Wichert in der ehemaligen Cafeteria der Flora Marzina. Der Bereich habe nach einem Wassereinbruch im Mai 2021 komplett gesperrt werden müssen, so der Heimbetreiber.
Emvia-Mitarbeiter Thorsten Wichert in der ehemaligen Cafeteria der Flora Marzina. Der Bereich habe nach einem Wassereinbruch im Mai 2021 komplett gesperrt werden müssen, so der Heimbetreiber. © Lars Christoph

Der Bereich mit der Cafeteria im Erdgeschoss – hier habe das Wasser ein Meter hoch gestanden – und der Turnhalle im Keller sei damals „komplett abgesoffen“ und könne seitdem nicht mehr genutzt werden. Auch mehrere Wohnbereiche hätten wegen der Feuchtigkeit komplett leer gezogen werden müssen. Wicherts Vorwurf: Film- und Fotoaufnahmen des RTL-Beitrags seien zum Teil in abgesperrten Bereichen gemacht worden.

Aktuell seien 95 der 140 Plätze des Hauses belegt; frei werdende Plätze würden aufgrund des Umbaus nicht mehr neu besetzt. Und: Die Personal- und Fachkraftquote liege in der Flora Marzina über dem vorgeschriebenen Schlüssel, so der Emvia-Gebietsleiter.

Das sagt die Stadt

Die Heimaufsicht der Stadt habe sofort am Tag nach der Ausstrahlung des RTL-Beitrags eine „unangekündigte Kontrolle“ in der Flora Marzina durchgeführt, sagt Hernes Sozialdezernent Johannes Chudziak auf Anfrage. Eine Überprüfung der Bestell -und Lieferlisten in der Küche sowie Stichproben bei den zubereiteten Speisen ließen nicht vermuten, dass es zu wenig oder qualitativ mangelhaftes Essen gebe. Einige Bewohner hätten berichtet, dass sich die Verpflegung im Haus verbessert habe.

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Auch bei der Personalausstattung habe die Heimaufsicht keine Beanstandungen gehabt. Bauliche Mängel seien durchaus festgestellt worden; die Bauaufsicht habe zudem aufgrund von Fotos die Renovierungsbedürftigkeit bestätigt. Die zeitweise mit Einschränkungen für die Bewohner verbundene Reparatur bzw. Erneuerung der Heizungsanlage sei nach Auskunft des Betreibers abgeschlossen. Zusammengefasst: Zumindest auf Basis der bei der Kontrolle vorgefundenen Unterlagen und Situation könne die Stadt die vom „Team Wallraff“ erhobenen Vorwürfe nicht bestätigen, so Chudziak.

Das sagen Bewohnerinnen

Sie stehe zu den von ihr im Bericht erhobenen Vorwürfen, sagt Heimbewohnerin Rosemarie Dürselen zur WAZ. Die 87-jährige Kölnerin lebt seit 2018 in der Flora Marzina und gehört dem Heimbeirat an. Die Mängel hätten zugenommen und seien zuletzt immer größer geworden, wozu natürlich auch Corona beitragen haben.

Das sei nicht nur ihre persönliche Einschätzung, sondern auch von anderen Bewohnern an sie herangetragen worden, sagen Dürselen und ihre Heimbeirats-Mitstreiterin Christel Salzmann (80). Nachdem Emvia nicht auf Hinweise und Beschwerden reagiert habe, hätten sie keinen andere Weg gesehen, als an die Öffentlichkeit zu gehen.

Auch das sagen Dürselen und Salzmann: „Wir leben gerne hier. Das ist eigentlich ein gutes Haus.“ Für die Mitarbeitenden würden sie „durchs Feuer gehen“. Und die neue Heimleiterin Veronika Stupp – die frühere Awo-Mitarbeiterin trat zum 1. Januar 2022 ihre Stelle an – mache einen sehr guten Eindruck und habe schon einiges bewegt. Dass es zu wenig Personal gebe, dafür könne Stupp ja nichts, so Rosemarie Dürselen. Und: Die Verpflegung sei inzwischen schon viel besser geworden.

Bewohnerin Rosemarie Dürselen (re.; 87) - hier mit Christel Salzmann (80) - hat die Mängel öffentlich gemacht. Beide Frauen gehören dem Heimbeirat der Flora Marzina an.
Bewohnerin Rosemarie Dürselen (re.; 87) - hier mit Christel Salzmann (80) - hat die Mängel öffentlich gemacht. Beide Frauen gehören dem Heimbeirat der Flora Marzina an. © Lars Christoph

Das sagt die Politik

Nach dem RTL-Beitrag haben die Grünen mehreren Anfragen für die Sitzungen des Sozialausschusses (16. März) und der Bezirksvertretung Wanne (22. März) gestellt. Der Wallraff-Bericht sei aus ihrer Sicht zwar „reißerisch“, doch die Beschwerden von Bewohnerinnen erfolgten ja nicht ohne Grund und seien ernst zu nehmen, so Ratsfrau Dorothea Schulte zur WAZ. Inhaltlich zielen die Fragen der Fraktion vor allem auf den Kenntnisstand und die Verantwortung der Stadt sowie die Ergebnisse von (früheren) Kontrollen der Heimaufsicht.

Sozialpolitikerin Dorothea Schulte hat mit der Herner Grünen-Ratsfraktion nach dem RTL-Bericht Fragen an die Stadt gerichtet.
Sozialpolitikerin Dorothea Schulte hat mit der Herner Grünen-Ratsfraktion nach dem RTL-Bericht Fragen an die Stadt gerichtet. © Hartmut Bühler

Schulte wirft im Gespräch mit der WAZ zudem die grundsätzliche Frage auf, ob es überhaupt private Betreiber von Pflegeheimen geben sollte. „Diese Betreiber sind auf Rendite aus“, so die Sozialpolitikerin. Und irgendwo müsse dann ja gespart werden, um diese Rendite zu erzielen. Wenn es größere Probleme mit Heimen gebe, träten diese in der Regel in privat geführten Einrichtungen auf.

WEITERE INFORMATIONEN: Das Haus

Das Pflegeheim Flora Marzina ist am 2. Oktober 1959 an der Heidstraße eröffnet worden. Bauherrin und Betreiberin war die damals noch eigenständige Stadt Wanne-Eickel und nach der Städteehe ab 1975 die Stadt Herne.

1998 wurde das Haus privatisiert und gemeinsam mit dem Heim Koppenbergs Hof (Herne-Mitte) für 24,8 Millionen Mark an die Hamburger Aktiengesellschaft Marseille-Kliniken verkauft.

Der Betreiber

Die französische Investorengruppe Chequers Capital hat 2017 insgesamt 46 stationäre Einrichtungen von der Marseille-Kliniken AG übernommen. Mittlerweile führt Chequers Capital über Emvia Living mehr als 60 Einrichtungen mit 6600 pflege- und betreuungsbedürftigen Menschen und 4600 Mitarbeitenden.

Die Sanierung der Flora Marzina werde im laufenden Betrieb erfolgen, kündigt Emvia an. Um Kapazitäten für Bewohnerinnen und Bewohner der Schritt für Schritt freizuziehenden Bereiche zu haben, werde eigens ein Anbau errichtet.

Auch für die Emvia-Senioreneinrichtung Koppenbergs Hof gebe es Umbauplanungen. Die Sanierung werde ebenfalls im Bestand und „in vielen einzelnen Teilschritten in den nächsten Jahren erfolgen“, heißt es.