Herne. In Herne müssen über 100 Kinder die Schulform wechseln, werden also „abgeschult“. Die GEW spricht von „Entwurzelung“ – und hat andere Zahlen.

  • Stadt Herne: Zum Schuljahresende werden 103 Kinder abgeschult.
  • Schuldezernent Merkendorf spricht von einem erheblichen Einschnitt für Betroffene.
  • Lehrer-Gewerkschaft GEW weiß von deutlich mehr „Abschulungen“.

Freibad, Strand oder Fußballplatz – die allermeisten Herner Kinder und Jugendlichen genießen die Sommerferien. Doch für einige sind diese sechs Wochen nicht unbeschwert. Sie erwartet mit Schulbeginn eine neue, ungewohnte Umgebung, denn sie mussten von einem Gymnasium oder einer Realschule auf eine Gesamtschule oder auf die Hauptschule wechseln. Sie wurden – so der unschöne Fachbegriff – „abgeschult“.

Die Stadt Herne hat im abgelaufenen Schuljahr 103 sogenannte Abschulungen registriert, bei denen Kinder die Gymnasien oder Realschulen verlassen mussten – der Großteil nach der sechsten Klasse, hinzu kommen aber auch Fälle von der siebten bis zur neunten Jahrgangsstufe. 2018/2019 habe die Zahl bei 166 gelegen. 2020/2021 sank die Zahl auf 81 – eine Folge der Aussetzung wegen der Coronafolgen.

Herne: Lehrer und Freundeskreis ändern sich

In kleinen Systemen lernt es sich besser: Hernes Schuldezernent Andreas Merkendorf.
In kleinen Systemen lernt es sich besser: Hernes Schuldezernent Andreas Merkendorf. © FUNKE Foto Services | Rainer Raffalski

Jenseits der nüchternen Statistik seien Abschulungen ärgerlich, sagt Hernes Schuldezernent Andreas Merkendorf. Für die betreffenden Jugendlichen sei der Schritt schwer und ein erheblicher Einschnitt ins Leben sowie in die Bildungsbiografie. Und je später der Wechsel geschehe, desto schwerer sei es auch, die Folgen aufzufangen. Die Schülerinnen und Schüler müssten sich räumlich neu orientieren und auf neue Lehrer und Mitschüler einstellen. Auch der Freundeskreis ändere sich dadurch.

Doch das Schulgesetz mache es nicht einfach, diesen Einschnitt zu verhindern, da es nach der Grundschule keine verbindliche Schulempfehlung mehr gebe, sondern nur noch Empfehlungen. Viele Eltern, das sei durchaus zu verstehen, schickten ihr Kind trotz einer eingeschränkten Empfehlung fürs Gymnasium oder die Realschule nicht auf die Gesamtschule, sondern eben doch zum Gymnasium oder zur Realschule. Und manchmal funktioniere es eben nicht.

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Vor einer großen Herausforderung stünden dann auch die aufnehmenden Schulen. Für die Gesamtschulen und die Hauptschule sei es jedes Jahr eine erhebliche Belastung, die Kinder und Jugendlichen dann zu integrieren. Merkendorf sieht die Landesregierung in der Pflicht, im Schulgesetz erheblich nachzusteuern. Die Stadt Herne könne bei der Schulorganisation wenig machen. Dennoch sei man in Herne nicht untätig: Mit dem Bildungsbüro oder mit dem Talentkolleg würden Unterstützungsmöglichkeiten angeboten, um gefährdete Kinder fit zu machen, damit sie an der weiterführenden Schule bleiben können.

Merkendorf wünscht sich, dass die Gesamtschulen in Herne so attraktiv seien, dass Eltern nach der vierten Klasse diese Schulform von sich aus so attraktiv finden, dass sie ihre Kinder dorthin schicken: „Unsere Aufgabe wird es sein, mit den Grundschulleitungen zu sprechen, damit dort die Gesamtschulen bekannter gemacht werden.“ Auch rund 50 Jahre nach der Gründung der ersten Gesamtschule in NRW hätten sie nicht den Ruf wie Gymnasien und Realschulen.

Und die Politik müsse sich den Zustand der Herner Gesamtschulen anschauen – baulich wie inhaltlich. Es müsse das Ziel sein, gerade die Gesamtschule Wanne und Mont-Cenis zu stärken. Gerade bei Mont-Cenis müsse der Neubau schnell kommen, außerdem müssten an den Gesamtschulen die Zügigkeiten reduziert werden. In kleinen Systemen lerne es sich besser. Aber unternehmen Gymnasien und Realschulen genug, um die Schülerinnen und Schüler zu halten? Merkendorf bejaht dies. Dort würden keine leichtfertigen Entscheidungen getroffen.

GEW: Es werden sogar 260 Kinder „weggeschult“

Carsten Piechnik, Vorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in Herne, teilt mit, dass ihm andere Zahlen vorliegen. Nach seinen Informationen seien zum Ende des Schuljahrs in Herne mehr als 260 Kinder und Jugendliche „weggeschult“ worden. Ebenso wie Schuldezernent Merkendorf spricht Piechnik von einem schweren Einschnitt bei den Schülerinnen und Schülern, mehr noch: Das sei eine „Entwurzelung“.

Schere der Ungleichheit geht immer weiter auf: Carsten Piechnik, GEW-Vorsitzender in Herne.
Schere der Ungleichheit geht immer weiter auf: Carsten Piechnik, GEW-Vorsitzender in Herne. © Ralph Bodemer

Besonders dramatisch sei ein solcher „Einschlag“ für diejenigen Kinder, die gerade erst mühsam feste und sichere soziale Bezüge aufgebaut hätten, weil sie vor einiger Zeit als Flüchtlinge gekommen seien und bereits mindestens einmal massiv entwurzelt und nicht selten traumatisiert worden seien. Ebenso fatal sei diese Entwurzelung für Kinder, die ohnehin in schwierigen, unsicheren Situationen lebten oder bei denen es niemanden gebe, der sie ausreichend auffange.

Gesellschaftlich trüge das System Schule mit seiner Selektionsfunktion dazu bei, das die Scheren der Ungleichheit weiter aufgingen. Wissenschaftliche Untersuchungen offenbarten immer wieder aufs Neue, dass benachteiligte Gruppen um ein Vielfaches schlechtere Chancen auf gut dotierte und angesehene Jobs hätten; ebenso hätten sie kaum Zugang zu attraktivem Wohnraum, auch nicht auf Teilhabe an Kultur oder Freizeitangeboten.