Herne. Auch in der Pandemie ist der Andrang am Talent-Kolleg Herne groß. Marcus Kottmann und Angelika Dorawa schildern die Gründe für die Entwicklung.

Die Corona-Pandemie hat für große Probleme an den Schulen gesorgt. Wie davon das Talent-Kolleg Herne betroffen ist, erläuternMarcus Kottmann, Leiter des NRW-Zentrums für Talentförderung, und Angelika Dorawa, stellvertretende Leiterin des Herner Talent-Kollegs, im Gespräch mit WAZ-Redakteur Tobias Bolsmann.

Frau Dorawa, Herr Kottmann, die Schulen haben während der Omikronwelle erhebliche Probleme mit dem Präsenzunterricht, wie stellt sich vor diesem Hintergrund die Situation am Talent-Kolleg dar?

Dorawa: Einzelberatungen bieten wir in Präsenz an, weil wir merken, dass gerade die Talente, die Unterstützung benötigen, auch die persönliche Beratung benötigen, gerade wenn es um Bewerbungen oder Schulübergänge geht. Das aktuelle Trimester, das gerade gestartet ist, führen wir allerdings online durch, wie zu Beginn der Pandemie. Der Andrang ist noch mal größer geworden. Wir haben aktuell 23 Kurse, das ist ein Höchststand.

Ist der Andrang auch deshalb so groß, weil viele Schüler Bedenken haben, dass sie auf Grund des lückenhaften Präsenzunterrichts in ihrer Entwicklung gebremst werden? Anders gefragt: Ist für manche Schüler das Talent-Kolleg ein Sicherheitsnetz?

Dorawa: Definitiv, weil das Talent-Kolleg ja keine Nachhilfe anbietet, sondern individuell schaut, was ein Talent benötigt. Und das sind die Grundlagen. Wenn man in der Sekundarstufe I die Grundlagen in Mathe verpasst, ist man in der Sekundarstufe II nicht fit.

Kottmann: Wir haben junge Leute, die kommen aus Sorge, dass sie sich nicht für die Ausbildung oder den Übergang in die Oberstufe qualifizieren. Aber wir haben auch junge Leute, die sagen, dass das Fach-Abi oder das Abi ihre Chance ist. Und diese Chance wollen sie nutzen, sie wollen sich weiterentwickeln. Aber gleichzeitig müssen sie feststellen, dass viel Unterricht ausfällt und Lehrkräfte fehlen. Deshalb kommen sie zu uns. Wir haben aber auch junge Menschen, die zu uns kommen, weil sie dort andere junge Leute treffen, die auch etwas aus sich machen wollen. Die fragen uns zum Beispiel: Können wir mit genau denselben Leuten den Kurs weitermachen? Es geht also auch um eine soziale Umgebung.

Dorawa: Bei uns fängt schon das Netzwerken an, was später im Beruf so wichtig sein kann. Auch wenn es den Jugendlichen so nicht bewusst ist. Wir haben inzwischen auch ehemalige Talente, die jetzt selbst Mentoren bei uns sind.

Apropos Sicherheitsnetz: Können Sie vor dem Hintergrund der Pandemie feststellen, dass sich Ausbildungs- und Studienwünsche verändern?

Dorawa: Klares Ja! Es gibt ein Bedürfnis nach krisensicheren Berufen. Der öffentliche Dienst ist plötzlich ganz stark gefragt. Bei Studiengängen sind Jura und Medizin ganz oben mit dabei, weil sie Sicherheit, gutes Geld und Prestige versprechen. Allerdings ist es vielfach so, dass die Talente gar nicht wissen, wie breit die Palette der Berufe und Studiengänge ist.

Ein Thema, was immer stärker wird, ist der Fachkräftemangel auf der einen und der Ausbildungsplatzmangel auf der anderen Seite. Muss das Talent-Kolleg vor diesem Hintergrund sein Profil anpassen?

Kottmann: Diese Frage kennen wir ja seit der Gründung. In all unseren Formaten achten wir darauf, dass die Jugendlichen das finden, was zu ihren Fähigkeiten passt. Dazu gehört nicht nur das Studium, sondern selbstverständlich auch die Ausbildung. Ein Kernproblem ist: Es gibt Bereiche, in denen gibt es Nachwuchsmangel in der Berufsausbildung und gleichzeitig in den entsprechenden Studiengängen. Weil das Potenzial einfach fehlt. So wird an vielen Schulen gar nicht mehr das Fach Physik unterrichtet, da kann es keinen Boom in der Elektrotechnik geben. Hier müssten Vertreter aus Handwerk und Hochschulen viel stärker gemeinsam agieren, ein Gegeneinander bringt da nichts.

Das Talent-Kolleg kooperiert seit einiger Zeit mit den Schulen der Sekundarstufe I. Wie gestaltet sich diese Zusammenarbeit?

Dorawa: Aktuell sind wir an den Realschulen Sodingen und Crange unterwegs und kooperieren vor Ort mit Lehrern, die uns leistungsstarke Schülerinnen und Schüler in die Beratung schicken. Der Andrang ist groß. Ganz wichtig ist die Beratung dazu, was die Jugendlichen nach der 10. Klasse machen. Wir wollen aber später natürlich mit allen Realschulen in Herne, aber auch mit der Hauptschule, arbeiten. Perspektivisch auch mit Realschulen in anderen Städten. Das ist eine große Zahl an jungen Leuten, die was können und was erreichen wollen.

Warum ist die Beratung am Übergang so wichtig?

Dorawa: Wenn ein Jugendlicher sich für Informatik interessiert, sollte es nach dem Übergang eine Schule sein, die auch einen Informatik-Schwerpunkt anbietet und nicht die Schule um die Ecke, nur weil die Freunde dahin gehen. Wir haben auch neun eigene Qualifizierungskurse für die Sekundarstufe I, weil sich die Lerninhalte zur Oberstufe deutlich unterscheiden.

Das Talent-Kolleg Ruhr entwickelt sich also nicht nur bei den Schülerzahlen weiter, sondern auch bei den Inhalten...

Dorawa: ...ja. Wir haben Talente, die seit Jahren an den Englischkursen teilnehmen, daraus hat sich dann ein englischer Buchclub entwickelt. Für Talente, die ins Studium gehen, haben wir auch Vorbereitungskurse für die gängigen Englischtests an den Unis. Wir wachsen, weil wir uns an den Bedarf der Talente anpassen.

Kottmann: Dass wir auch die Sekundarstufe I in den Blick genommen haben, liegt daran, dass wir genau am Übergang zur Sekundarstufe II enorm viele Talente, gerade bei den Bildungsaufsteigern, verlieren. Deshalb hatten wir es immer im Blick, aber mit den begrenzten Möglichkeiten zum Start war klar, dass wir zunächst in die Oberstufen gehen.

>>> LOB AN DIE STADT HERNE

■ Marcus Kottmann spricht im Zusammenhang mit dem Talentkolleg Herne ein besonderes Lob aus. Die Stadt habe sich immer besonders engagiert. Herne habe das Kolleg immer gefördert und sei im Vergleich zu anderen Städten offener und aktiver.

■ Und weil Herne so aktiv gewesen sei, habe man im vergangenen Jahr in Gelsenkirchen das zweite Talent-Kolleg eröffnen können, und es würden in Hagen und Oberhausen Nummer drei und vier folgen. Dazu habe Herne seinen Beitrag geleistet, weil die Stadt ihrer Zeit voraus gewesen sei und den Mut hatte, in einen neuen Ansatz zu investieren.