Heiligenhaus. Ruth Ortlinghaus ist die Frau für die Kultur in Heiligenhaus. Nun feiert sie ihr neuntes Jahrzehnt – und verrät einiges aus ihrem langen Leben.
Wenn sie nur noch ein Buch besitzen könnte, dann wäre es die Bibel: Tausende Werke fanden über die vielen Jahrzehnte bei Ruth Ortlinghaus ein Heim, wenn auch nur vorübergehend. Denn die ehemalige Leiterin der Stadtbücherei verschenkt sie ebenso gerne wie sie sie bekommt. Am heutigen Samstag wird Ortlinghaus wohl selbst reichlich beschenkt: Die Leiterin des Stadtmarketing-Arbeitskreises Kultur feiert ihren 90. Geburtstag.
Wenn Ruth Ortlinghaus über ihr Leben nachdenkt, wird sie ganz nachdenklich: „Wir hatten nichts“, erinnert sie sich an die schlimme Kriegszeit, an das karge Leben mit ihrer Familie, „schauen Sie, da liegen noch die Briefe meines Bruders, der mit 18 Jahren von der Schulbank weg eingezogen wurde.“ Noch immer steigen ihr die Tränen in die Augen, wenn sie an den großen Bruder denkt – und die Worte ihrer Mutter an Heiligabend, „der Junge ruft nach mir.“ 40 Jahre später erfährt Ruth Ortlinghaus: Ihr Bruder war an diesem Heiligabend vor 40 Jahren gefallen.
Heiligenhauserin führt die Geschicke der Bücherei über 30 Jahre lang
In andere Welten eintauchen und auch etwas aus der Realität fliehen – schon früh ist Ortlinghaus von Büchern fasziniert. „Mein Traum war immer eine eigene Buchhandlung. Nach meiner Ausbildung hörte ich von der freien Stelle als stellvertretende Büchereileitung, so bin ich nach Heiligenhaus gekommen.“ Den Bestand konnte sie in ihren 30 Jahren von 10.000 auf über 43.000 erhöhen, „Bestandspflege ist dabei aber genauso wichtig, man kann nicht immer nur einfach anhäufen.“
Gern erinnert sie sich an viele Veranstaltungen, die in der Bücherei, damals noch am Südring, stattfanden, „Günter Grass und Walter Kempowski haben hier unter anderem gelesen.“ Doch am meisten in Erinnerung geblieben sind ihr die „strahlenden Kinderaugen, wenn sie eingetaucht sind in die Welt der Bücher. Es ist so wichtig, zu lesen! Das Digitale gehört heute auch dazu, aber etwas haptisches wie ein Buch kann es nicht ersetzen.“ Bücher, so ist Ortlingshaus Leitspruch, seien eben das Gedächtnis der Menschheit.
Kunst begeistert Ortlinghaus genauso wie Bücher und Ballett
Der Kultur zugetan war Ortlinghaus schon als junges Mädchen, „meine erste Ausstellung war damals im Louvre in Paris, ich war begeistert.“ Erlebt habe sie dann die Revolution in der Lyrik der 1980er Jahre, besuchte die erste Picasso- und Chagall-Ausstellung in Deutschland, „Kunst ist nicht das, was Leben ausmacht, sondern was Leben wird.“ Geforscht hat sie auch selber, verweist sie auf den nur wenige Meter von ihrer Haustür entfernten John-Steinbeck-Park; sie hatte damals herausgefunden, dass die Vorfahren des US-Schriftstellers vom Gut Großsteinbeck aus Heiligenhaus stammten.
Ob sie einen Lieblingsautoren habe? „Schauen Sie sich um“, schweift ihr Blick auf die vielen Werke in ihrer Wohnung, „man kann aus so vielen etwas lernen. Man ist nie alleine, wenn man Bücher hat!“ Hermann Hesse, Thomas Mann und Else Lasker-Schüler jedoch würden ihr besonders am Herzen liegen, aber manchmal wäre auch die einfache Lektüre nicht zu unterschätzen, „Harry Potter habe ich auch gelesen, Humor und Ironie gehören im Leben auch dazu!
Stadtmarketing lebt in Heiligenhaus vom Ehrenamt
Auf 30 Jahre Bücherei folgten nach dem Ruhestand eine genauso lange Zeit Stadtmarketing, dessen Arbeitskreis Kultur sie leitet. „Wir haben viel erreichen können und auch viele Feste auf die Beine stellen können.“ Die Filmschauplätze NRW sind da ein Beispiel, aber auch die Bücherflohmärkte und die kulturelle Begleitung von Festen. „Wir sind deutschlandweit das einzige ehrenamtliche Stadtmarketing“, betont Ortlinghaus stolz. Von Anfang an war sie dabei, gemeinsam mit Rolf Watty, Walter Kaiser und Hans-Otto Rasche. Seit 50 Jahren schreibt sie schon für „Wir Älteren“, war lange Jahre für die Rheinische Post an der Feder und für die Cis Hiliniciweg-Bände des Geschichtsvereins – „im nächsten Jahr werden wir einen weiteren Band veröffentlichen“, verrät sie.
Wirklich zur Ruhe ist Ortlinghaus auch im Ruhestand also auch nicht gekommen, „das Ehrenamt ist eine lebensfüllende Aufgabe“, betont sie. „Man kann hier aber wirklich noch etwas bewegen, die Menschen hier haben ein Wir-Gefühl, das schätze ich an Heiligenhaus, genauso wie die Landschaft.“ Wie sie sich fit halte? „Im hier und jetzt leben im Blick auf Glaube, Hoffnung und Liebe“, verrät sie – und ist froh, die Krebserkrankung vor vielen Jahren überstanden zu haben. „Ich habe eine Altersphilosophie“, verrät Ortlinghaus, und beginnt zu zitieren:
„Es ist besser, ein Licht zu entzünden, als die Finsternis zu beklagen. Denn die Nacht, in der das Fürchten wohnt, hat auch die Sterne und den Mond. Drum wende deine Augen der Sonne zu, dann fallen die Schatten hinter dich.“
Ortlinghaus will Älteren eine Freude machen
Die positive Denkweise, die Ortlinghaus ausmache, wünscht sie sich auch von vielen anderen Menschen. „Es wird doch heute auf einem sehr hohen Niveau gejammert, dabei können wir doch froh sein, wir haben doch alles und vor allem leben wir in Frieden“, blickt sie auch sorgenvoll auf die Situation in der Ukraine und im Nahen Osten.
Heute wird Ruth Ortlinghaus mit Familien und Freunden feiern, „leider sind einige, auf die ich mir sehr gefreut hatte, an Corona erkrankt“, bedauert sie, freut sich dennoch auf die Runde. Geschenke wolle sie keine, „mit 80 bat ich um Spenden für Jugendliche, jetzt bitte ich um Spenden für Ältere. Damit kann ich dann ganz vielen hoffentlich eine Kleinigkeit kaufen, denn wenn man im Alter kein Geld hat, ist man arm dran.“ Sie selber ist froh, mit 90 noch eigenständig mit einigen Helfenden leben zu können. Gerne ist sie noch immer in der Natur, früher ist sie auch viel gereist, „nun entführen mich meine Bücher in eine andere Welt.“
Wir gratulieren.