Gladbeck. Um Geschichte lebendig zu halten, berichtet Zeitzeugin Eva Weyl an Gladbecker Schulen von ihrer Kindheit im KZ. So reagieren die Schüler.
- Als sechsjähriges Mädchen wird Eva Weyl mit ihrer Familie in ein Konzentrationslager gebracht und erst nach drei Jahren befreit.
- Von ihren Erlebnissen vor Ort und warum sie überlebte, erzählt sie Gladbecker Schülern in einem Vortrag.
- Dabei erklärt sie auch, weshalb sie ausgerechnet nach Gladbeck gekommen ist, um ihre Geschichte weiterzugeben.
Stille. Sobald Eva Weyl das Mikrofon in die Hand nimmt, verstummen schlagartig alle Gespräche, gebannt richten sich die Blicke auf die 88 Jahre alte Frau auf der Bühne. „Vor 80 Jahren stand ich auf der Todesliste. Mehr als drei Jahre lang stand ich gemeinsam mit meinen Eltern auf der Todesliste“, beginnt Weyl ihren Vortrag. Zwischen den einzelnen Worten hält sie inne, um dem Gesagten mehr Kraft zu geben. Im Hintergrund ist auf einer Leinwand ein schwarz-weißes Foto zu sehen, es zeigt einen Wachturm und Stacheldrahtzaun – die düstere Atmosphäre steht im Kontrast zu der bunten alten Turnhalle des Riesener Gymnasiums, in der sich rund 200 Schüler der zehnten und zwölften Jahrgangsstufe versammelt haben, um den Erlebnissen einer Zeitzeugin des Zweiten Weltkriegs zu lauschen.
Zeitzeugin macht Gladbecker Schüler mit ihrem Vortrag zu „Zweitzeugen“
An allen drei Gladbecker Gymnasien ist Eva Weyl in dieser Woche zu Gast, um zu schildern, was sie als Jüdin im Konzentrationslager Westerbork erlebt hat. Mehr als 100.000 Juden wurden von dem niederländischen Durchgangslager nahe der deutschen Grenze aus in Arbeits- und Vernichtungslager abtransportiert, nur fünf Prozent der Insassen überlebten den Krieg, erzählt Weyl. Ihr Ziel: „Darüber aufklären, wozu Hass, Unwissenheit und Dummheit führen können.“ Sie möchte die Geschichte auch nach 80 Jahren lebendig halten und die Schüler zu „Zweitzeugen“ machen, die das Erzählte wiederum an nachfolgende Generationen weitergeben. Dafür reiste sie vor ein paar Tagen extra aus Amsterdam an. Organisiert wurden die drei Veranstaltungen vom Verein „Denk dran“, deren erster Vorsitzender Georg Liebich bereits seit mehr als 30 Jahren ehrenamtlich Gedenkstättenfahrten durchführt.
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„Meine Geschichte wird ab und zu etwas heftig, aber Ihr sollt wissen, dass keiner von Euch für die deutsche Vergangenheit verantwortlich ist“, sagt Weyl, während sie den Schülern direkt in die Gesichter schaut. „Allerdings seid Ihr sehr wohl dafür verantwortlich, was Ihr mit Eurem Wissen darüber, was damals geschehen ist, tut. Damit so etwas in Zukunft nie wieder passiert.“ Mit ihrer eindrücklichen, aber gleichzeitig feinfühligen Art zieht die 88-Jährige ihre Zuhörer gleich in ihren Bahn, nicht mal geflüstert wird unter den Schülern. Auch Schulleiterin Verena Wintjes sitzt in der ersten Reihe und hört gespannt zu.
In Arnhem als Tochter deutscher Juden 1935 geboren, verbrachte Weyl die ersten sechs Jahre ihres Lebens ohne große Sorgen – wobei schon damals die Verfolgung der Juden immer bedrohlicher wurde. Doch als Kind habe Weyl davon nicht allzu viel mitbekommen; sie zeigt ein Foto, auf dem ein etwa sechs Jahre altes Mädchen mit zwei Zöpfen und einer Puppe im Arm in die Kamera strahlt. Mehrere Schülerinnen grinsen, als sie das Bild sehen. „Das war eines der letzten Fotos, die von mir gemacht wurden, bevor wir ins Lager kamen. Meine Puppe habe ich mit ins KZ genommen, aber die hat das im Gegensatz zu mir nicht überlebt. Sie wurde mir schnell geklaut, leider“, berichtet die Zeitzeugin. Das Grinsen der Schülerinnen versteinert.
Weyl wusste nicht, was sie in Westerbork erwartet: „Habe mich über den Umzug gefreut“
1942 habe Weyls Familie einen Brief erhalten, in dem sie dazu aufgefordert wurde, die wichtigsten Sachen zusammenzupacken und in drei Tagen einen Zug nach Westerbork zu nehmen. „Als Kind wusste ich nicht, was mich dort erwartet. Meine Eltern haben gesagt, dass wir umziehen, da habe ich mich gefreut. Endlich mal was Neues!“, erinnert sich die 88-Jährige. Auf dem sechs Kilometer langen Fußmarsch vom Bahnhof zum Lager habe sie zum ersten Mal richtig Angst bekommen – es war Ende Januar und eisig kalt. Die Baracken vor Ort seien grausam gewesen, ohne Heizung und mit dünnen Wänden.
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„Wir durften alle zehn Tage etwa eine Minute lang duschen. Also wenn ihr morgen vor der Schule 15 Minuten lang unter der heißen Dusche steht, dann denkt bitte an mich, ja?“ – Trotz des ernsten Themas schafft Weyl es durch lockere Sprüche zwischendurch, die Schüler zum Schmunzeln zu bringen. In ihrem beigefarbenen Blazer mit bunter Bluse und Sneakern an den Füßen sitzt sie ganz lässig auf der Bühne und schafft es leicht, eine Verbindung zu den Schülern aufzubauen, ihre Worte greifen tief.
Weyl hatte Glück im Unglück, am 12. April 1945 wird sie gemeinsam mit ihrer Familie von den Kanadiern befreit – aus ihrem nächsten Umfeld überleben alle Verwandten den Krieg. Nach dem Krieg freundet sie sich sogar mit der Tochter des Lagerkommandanten an, diese könne schließlich nichts für die Verbrechen ihres Vaters. Auch den Gladbecker Schülern rät sie, auf ihr Herz zu hören und niemanden für Taten eines anderen zu verurteilen.
Bis zu 60 Schulen im Jahr besucht die Zeitzeugin, „damit nicht vergessen wird“
Sehr eindringlich wird Weyl beim Thema „Wahlen“. Mit erhobenem Zeigefinger richtet sie sich an die Schüler und rät: „Bald dürft ihr wählen gehen. Bitte denkt gut nach! Welche Partei steht für Freiheit, für Demokratie?“ Ihren Vortrag beendet sie mit einem Foto von drei verschiedenfarbigen Eiern, die schließlich alle als Spiegeleier in einer Pfanne landen. „Von außen sind wir alle verschieden, aber von innen sind wir alle gleich.“ Tosender Applaus.
In einer anschließenden Fragerunde möchte ein Schüler wissen, warum Eva Weyl ausgerechnet nach Gladbeck gekommen sei. Die Zeitzeugin erklärt, dass sie gerne in kleineren Städten in NRW unterwegs sei, bis zu 60 Schulen pro Jahr besuche sie. Da ihre Mutter aus Kleve stammte, habe sie eine Verbindung zu der Gegend hier.
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Eine Schülerin wiederum möchte wissen, ob sie an Spätfolgen durch den Krieg leide. Weyl antwortet: „Das Erlebte war in unserer Familie nie ein verbotenes Thema, dadurch hatte ich kein Trauma. Aber wenn ich so wie in dieser Woche jeden Tag über den Holocaust spreche, dann bekomme ich Alpträume. Doch die gehen wieder weg, mir ist es wichtig, meine Geschichte weiterzugeben. Deshalb bedanke ich mich bei Euch, dass Ihr mir zugehört habt.“