Gladbeck. Die Türkei-Wahl hat Auswirkungen bis nach Gladbeck. Viele Deutschtürken sind zur Wahl aufgerufen. Es gibt Gegenwind auch Gegenwind für Erdogan.

Über 2300 Kilometer Luftlinie trennen Gladbeck und Ankara. Dennoch dürfen seit Donnerstag viele Gladbecker mitbestimmen, wer künftig in der türkischen Hauptstadt im Parlament sitzt und wer neuer Präsident der Türkei wird – sofern sie einen türkischen Pass besitzen. Einige unterstützen Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan und seine Partei, die AKP. Aber es weht auch Gegenwind aus Gladbeck.

Der kommt zum Beispiel von der Alevitischen Gemeinde: „Wir waren schon immer gegen rechte Populisten und das bleibt auch so“, sagt der Vorsitzende Tecer Ceylan. Viele Gemeindemitglieder seien politisch interessiert und wollen an der Wahl teilnehmen. Deswegen hat Ceylan Busse organisiert, die am Montag etwa 100 Personen vom Kulturzentrum Im Linnerott zum Wahllokal nach Essen fahren.

Alevitischen Gemeinde spricht sich für Oppositionskandidaten aus

Der Vorsitzende prognostiziert: „Wahrscheinlich werden alle Wahlberechtigten aus der Gemeinde Kemal Kilicdaroglu wählen“, also den Oppositionskandidaten von der CHP, der ein Bündnis aus sechs Parteien anführt. Alles andere würde Tecer Ceylan wundern: „Türken, die in Deutschland leben, aber dann für Erdogan stimmen – so etwas darf es nicht geben.“

Empört ist Ceylan auch über Wahlwerbung für Erdogan in Gladbeck. Seit 2017 brauchen türkische Politiker für Wahlkampfauftritte in Deutschland eine Genehmigung. Ab drei Monate vor der Wahl sind solche Veranstaltungen ganz verboten. „Über die Medien und bei Veranstaltungen versucht die AKP trotzdem, Deutschtürken zu mobilisieren, auch in Gladbeck“, so Ceylan.

Der Vorsitzende des Alevitischen Kulturvereins Gladbeck, Tecer Ceylan, kritisiert die Wahlwerbung für Erdogan in Gladbeck.
Der Vorsitzende des Alevitischen Kulturvereins Gladbeck, Tecer Ceylan, kritisiert die Wahlwerbung für Erdogan in Gladbeck. © FUNKE Foto Services | Oliver Mengedoht

Das berichtet dieser Redaktion auch die türkeistämmige Gladbeckerin Müzeyyen Dreessen: „Da läuft ganz viel Wahlkampf unter dem Radar, nicht nur kurz vor der Wahl.“ Seit 2022 würden türkische Medien berichten, dass AKP-Politiker Kulturveranstaltungen in NRW besuchten, um für Erdogan zu werben. Teilweise würden Erdogan-Anhänger sogar Haustürwahlkampf in Gladbeck betreiben und Flyer mit AKP-Werbung verteilen, sagt sie.

Flyer in Gladbeck werben für Erdogan

Die Flyer, die Dreessen in dieser Woche von einem Bekannten in Gladbeck bekommen habe, liegen der Redaktion vor. Darauf stehen nicht nur die Öffnungszeiten und Adressen der Wahllokale in Essen, Dortmund und Siegen sowie Kontakte zu Personen, die Fahrgemeinschaften zu den Lokalen organisieren.

Auch Präsident Erdogan ist abgebildet, blauer Anzug, rote Krawatte, die rechte Hand auf der linken Brust, darüber steht auf Türkisch geschrieben: „Für das Jahrhundert der Türkei – Der richtige Zeitpunkt, Der richtige Mann“. Auf einem anderen Flyer stehen 34 Wahlsprechen der AKP, die speziell an Türken im Ausland gerichtet sind.

Müzeyyen Dreessen schätzt, dass viele Deutschtürken Erdogan wählen, weil sie Ausgrenzung erfahren hätten und sich mit ihm Stabilität erhofften. Dreessen teilt diese Argumente nicht: „Es ist nicht nachvollziehbar, warum man hier dieses autoritäre Ein-Mann-Regime unterstützt und dafür Werbung macht.“ Auch viele Türken in der Türkei würden es nicht gutheißen, dass Deutschtürken ihre Zukunft gefährden, während sie selbst in einer Demokratie leben, so Dreessen.

Ein Name, der auf den Wahlflyern als Kontaktperson auch zu finden ist: Habib Ay. Der Lokalpolitiker wohnt seit 1986 in Gladbeck und macht aus seiner Sympathie für Recep Tayyip Erdogan keinen Hehl. „Sonst würde ich die Werbung ja nicht unterstützen“, sagt er gegenüber der WAZ.

Warum viele Deutschtürken aus NRW für Erdogan stimmen

„Freiwillige“ würden die Blätter bei Veranstaltungen verteilen und gezielt bei Wahlberechtigten in die Briefkästen werfen. Ziel sei es, Wählern zu helfen, die alleine nicht zu den Wahllokalen kommen könnten, wenn sie zum Beispiel kein Auto haben oder krank sind. Diejenigen könnten sich bei Ay melden und er organisiere eine Fahrgemeinschaft. Politisch beeinflussen wolle Habib Ay die Wähler nicht.

Er kritisiert hingegen, dass Deutschtürken in Deutschland nicht wählen dürfen, wenn sie nur den türkischen Pass besitzen: „Wer lange in Deutschland lebt und hier Steuern zahlt, sollte auch ohne deutsche Staatsbürgerschaft hier wählen dürfen.“ Auch aus Trotz würden sich deshalb viele Deutschtürken an der türkischen Wahl beteiligen – aus Gladbeck seien es etwa 2000 bis 3000 Menschen.

Dass viele Deutschtürken in der Türkei wählen, weil sie sich von der deutschen Politik nicht abgeholt fühlen, meint auch Integrationsratsmitglied Bahtiyar Ünlütürk aus Gladbeck. Mehr noch: Für ihn ist das einer der Gründe dafür, warum im Ruhrgebiet so viele Menschen für Erdogan stimmen. Gut findet er die Wahlmöglichkeit für im Ausland lebende Türken aber nicht: „Die beeinflussen die Politik, ohne dass sie von den Folgen etwas mitbekommen.“

>> SO LÄUFT DIE WAHL FÜR DEUTSCHTÜRKEN AUS NRW

  • Seit Donnerstag (27. April) können Wahlberechtigte aus NRW ihre Stimmen bei der türkischen Parlaments- und Präsidentschaftswahl abgeben. Die Möglichkeit dazu besteht bis zum 9. Mai. Dazu müssen sie ihre Stimmen per Brief in einem von acht Wahllokalen in NRW abgeben.
  • Wahlberechtigt ist, wer einen türkischen Pass besitzt und im Wählerverzeichnis registriert ist. Rund fünf Prozent aller türkischen Wahlberechtigten leben im Ausland. In NRW sind rund 500.000 Menschen wahlberechtigt.