Gladbeck. Das Leben mit einem autistischen Kind ist kompliziert. Fachleute in Gladbeck stehen Eltern zur Seite, erklären Wege von Diagnose und Therapie.
Autismus? Bei diesem Begriff macht’s in vielen Köpfen Klick. Und vor dem geistigen Auge erscheint Dustin Hoffman. Er spielte im Filmdrama „Rain Man“ einen Autisten und wurde für seine Leistung mit einem Oscar ausgezeichnet. Der Streifen führt Probleme des Mannes vor Augen, dessen Verhalten vielen Menschen nicht nachvollziehbar ist und absonderlich erscheint. Unverständnis kennen auch Eltern in Gladbeck, bei deren Kindern autistische Züge bemerkbar sind. Ihr Alltag ist beherrscht von viel Drama. Und immer mehr betroffene Mütter und Väter suchen Hilfe. Gladbecker Fachleute erklären Möglichkeiten der Diagnose, Unterstützung und Therapie.
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Brigitte Kleine-Harmeyer sagt „mit aller Vorsicht“: „Eine Zeit lang wurde oft die Diagnose ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung, Anmerk. der Redaktion) gestellt. Das Thema steht nicht mehr im Fokus. Inzwischen wird schnell von Autismus gesprochen.“ Sie, beim Caritasverband Gladbeckdie Abteilungsleiterin des Bereichs „Kinder, Jugend und Familie“ und Ansprechpartnerin in der Frühförderstelle, habe selbst schon darüber nachgedacht, woran das liegen mag. Von 190 Mädchen und Jungen, die derzeit in ihrer Zuständigkeit betreut werden, könne es sich bei zehn bis 20 um diese tiefgreifende Entwicklungsstörung handeln. „Wir hatten immer solche Kinder, aber früher waren es vier oder fünf“, erinnert sich die Expertin.
Fachleute in Gladbeck: Autismus ist viel mehr als Tobsuchtsanfälle und Verschrobenheit
Vielleicht liegt der Anstieg darin begründet, dass vor Jahrzehnten Autismus schlichtweg nicht erkannt wurde oder werden konnte? „Außenstehende fanden betroffene Erwachsene einfach eigenbrötlerisch, und diese hatten ihre Nischen in der Gesellschaft gefunden“, meint Kleine-Harmeyer.
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Dabei bedeutet Autismus viel mehr als Verschrobenheit, müsse die Diagnose so zeitig wie möglich ansetzen, um Therapien zu entwickeln. Die Caritas-Expertin erklärt: „Wir unterstützen in der Frühförderung Kinder ab null Jahren bis zur Einschulung. Währenddessen beobachten wir bei vielen Mädchen und Jungen Verhaltensweisen aus dem autistischen Spektrum.“ So heißt es korrekt, wie Kinderarzt Dr. Stefan Kusserow klarstellt. Er erläutert: „Fachleute stellen anhand einer Leitlinienkette eine Diagnose, das ist ein schwieriger und langwieriger Prozess.“ Eine Anlaufstelle könne die Autismus-Ambulanz in Bottrop sein. Kusserow: „Steht die Diagnose, ist die Chance groß, Verbesserungen zu erreichen.“
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Das Kind tobt, hat konfliktgeladene Wutausbrüche, wenn sich ‘mal Abweichungen vom gewohnten Alltagsablauf ergeben, „ist wenig variabel und kreativ beim Spielen, interessiert sich stark für Details“ – ein Fall von Autismus? Kann sein. Kleine-Harmeyer berichtet: „Diese Kinder sind oft fasziniert von Einzelheiten, also sie schenken beispielsweise nicht dem Spielzeugauto an sich mit seiner Funktionsweise Beachtung, sondern nur den Rädern, die sich drehen. Mädchen und Jungen mit autistischen Verhaltensweisen haben oft eine Vorliebe für alles, das sich dreht, auch für Ventilatoren.“ Bei einer Puppe können es nur die beweglichen Augenlider als Einzelaspekt sein, die Aufmerksamkeit erregen. Die Expertin berichtet: „Die Kinder puzzeln gerne, reihen Dinge aneinander, mögen Regelspiele.“ Aber es falle ihnen schwer, kreativ zu sein, „in andere Rollen zu schlüpfen“.
Kusserow erklärt als Mediziner: „Bei dem Autismusspektrum handelt es sich um Störungen mit vielen Facetten.“ Den mathematisch genialen Eigenbrötler gebe es, ja. Aber das sei ein Klischee. Vielmehr haben es Fachleute mit einer „kombinierten Entwicklungsstörung zu tun: „Behinderungen treten in allen Belangen auf: in der visuellen Wahrnehmung, der Verarbeitung der Sinneswahrnehmungen; es sind motorische, feinmotorische und sprachliche Defizite erkennbar.“ Kurzum: „Auffälligkeiten in alle Richtungen.“
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Das 20-köpfige Team mit Brigitte Kleine-Harmeyer hat die Erfahrung gemacht: „Die Kommunikation ist ein Problem, weil der Spracherwerb oft verspätet ist. Bilder werden nicht verstanden, alles wird wörtlich genommen.“ Die Expertin weiß davon zu berichten, dass „Autisten sogar Mühe haben, einen Kontakt zur Mutter aufzunehmen“. Oft fielen Mädchen und Jungen auch durch eine extreme Empfindlichkeit auf: „Da stört schon das Gewackel im Kinderwagen.“
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Kusserow – „ich habe in meiner Praxis „fünf echte diagnostizierte Autisten zwischen fünf und 16 Jahren“ – sieht betroffene Kinder gehandicapt, weil „die soziale Teilhabe in Gefahr ist“: „Das ist der große Unterschied zu ADHS.“ Ein autistisches Kind lebe, bildlich gesprochen, in seiner eigenen Blase, sei schwer zugänglich. „An einen ADHSler kommt man besser ‘ran“, hat der Kinderarzt erfahren. Nennen wir beispielhaft einen kleinen Patienten „Alex“. Der Junge ist „sehr schwer behandelbar, schreit, klammert sich an seinen Vater“. Geht solch’ ein Kind offen auf andere zu? Nein! „Es guckt eher zu.“
Autistische Kinder brauchen Förderung
Ein dissoziales Verhalten, das ein Kind mit Verhaltensweisen aus dem autistischen Spektrum in die Außenseiter-Ecke drängt. Aber: „Es hat auch kein Interesse, dass man es versteht.“ Eben anders als bei einem Mädchen oder Jungen mit ADHS. Kusserow zieht den Vergleich: „Ein Autist hat die Gruppe nie gesucht, empfindet also keine Ablehnung. Dessen Gehirn funktioniert anders als das anderer Kinder.“
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Bei Alex zeigt sich Kusserow „besonders zugänglich und locker“, baut geduldig „Extra-Nähe“ auf: „Solche Kinder brauchen einen stringenten Ansprechpartner, auch in der Familie.“ Eltern, Geschwister, andere Verwandte „stehen vor einem Riesenberg Arbeit“.
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Da kann Kleine-Harmeyer nur bestätigend mit dem Kopf nicken. Sie berichtet: „Unsere Aufgabe ist, Potenziale zu wecken und Interessen auszuweiten.“ Das heißt unter anderem, bis an die Grenzen gehen, die ein Kind aushalten kann. Tobsuchtsanfälle und Schreiattacken – „soziale Interaktionen sind extrem anstrengend“. Die Expertin: „Wir arbeiten intensiv mit den Eltern.“ Der Alltag werde um dieses Kind „herumgebaut“, das bekommen auch Geschwister zu spüren, indem sie Rücksichtnehmen lernen (müssen).
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Doch irgendwann ist’s vorbei mit dieser „geschlossenen Welt“, Kindergarten und Schule stehen an: „Wir arbeiten mit Kitas zusammen, überlegen, welche Rahmenbedingungen möglich sind – zum Beispiel Kopfhörer, damit das Geschnatter der anderen ausgeblendet wird.“ In der Schule sei oft ein Integrationshelfer notwendig, „aber den gibt’s nur mit der klaren Diagnose ,Autismus’“.