Gladbeck. Ein Paar aus Gladbeck ist traumatisiert, erhebt Vorwürfe gegen die Polizei. Spezialkräfte sprengten nach dem Überfall auf S04-Fans ihre Haustür.

Seit dem Morgen des 9. März ist die heile Welt eines unbescholtenen älteren Paares in Gladbeck nicht nur buchstäblich aus den Angeln gehoben. Spezialkräfte der Polizei sprengten in der Frühe ihre Haustür, stürmten vermummt und bewaffnet in das Schlafzimmer und zwangen die geschockten, zitternden Mieter eines schmucken Reihenhauses, sich aufs Bett zu setzen, sich nicht zu rühren, die Hände zu heben. Hintergrund der Razzia in der Gladbecker Stadtmitte ist der Überfall auf den Schalker-Fanbus durch Dortmunder und Essener Ultras im Februar. Die durch den SEK-Einsatztraumatisierten Gladbecker stellten Strafanzeige, sie werfen der Polizei „unverhältnismäßiges, brutales Handeln“ vor. Sie sind aus einem besonderen Grund in das Visier der Sonderkommission geraten.

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Die Fotos, die Reiner D. und seine Partnerin D. (58) nach dem Abrücken des Spezialeinsatzkommandos gemacht haben, zeigen die Verwüstung, die der Sprengstoff in ihrer gepflegten und liebevoll eingerichteten Wohnung angerichtet hat. Auch zwei Blendgranaten hat die Polizei beim Vorrücken gezündet. Die stabile Eingangstür wurde auseinandergerissen. Ein Stahlträger ist aus dem Futter wie ein Speer durch den Flur geflogen, hat einen tiefen Krater beim Auftreffen in der Zimmerwand zum Wohnzimmer hinterlassen. Splitter aus der zerstörten Tür sind wie Schrotkugeln bis ins Wohnzimmer gejagt, Einschlagspuren sind an den Wänden und auf Gegenständen zu sehen. „Wir beide waren gerade im Begriff aufzustehen, hinunterzugehen, um den ersten Kaffee des Morgens zu trinken. Nicht auszudenken, wie schwer wir verletzt worden wären, wenn wir bei der Sprengung schon im Flur gestanden hätten“, sagt der 66-jährige Rentner.

Das Spezialkommando suchte nach dem erwachsenen Sohn und etwaigen Beweismitteln

Rainer D. zeigt die durch die Sprengung völlig zerstörte Haustür und den Stahlträger, der wie ein Speer durch die Wohnung flog.
Rainer D. zeigt die durch die Sprengung völlig zerstörte Haustür und den Stahlträger, der wie ein Speer durch die Wohnung flog. © FUNKE Foto Services | Michael Korte

Im weiteren Einsatzverlauf sei dann klar geworden, dass das Spezialkommando nach dem Sohn seiner Partnerin und etwaigen Beweismitteln suchte, so Reiner D.. Der 30-Jährige wurde laut Durchsuchungsbeschluss verdächtigt, an dem Überfall auf den Fanbus der Schalke-Ultras am 19. Februar beteiligt gewesen zu sein. 150 bis 200 organisierte Ultras der Vereine Rot-Weiss Essen und Borussia Dortmund hatten die wartenden Schalker körperlich angegriffen, es gab Verletzte. Eine schlimme Tat, die die Gladbecker „selbstverständlich verurteilen“. Reiner D. ist Anhänger des BVB, seine Frau drückt den Schalkern die Daumen. Ihr Sohn A. aus erster Ehe ist wie sein Vater bekennender RWE-Fan mit Dauerkarte.

Rainer D. zeigt auf den zerstörten Eingangsbereich. Das Paar hat mit Eigeninitiative und privaten Kontakten eine Behelfstür einbauen können.
Rainer D. zeigt auf den zerstörten Eingangsbereich. Das Paar hat mit Eigeninitiative und privaten Kontakten eine Behelfstür einbauen können. © FUNKE Foto Services | Michael Korte

Der junge Mann sei in Gladbeck gemeldet, weil kürzlich die schwierige Trennung von seiner Partnerin erfolgt sei und er deren gemeinsame Wohnung in Essen verlassen habe. Die Mutter sagt, sie habe dem Sohn vorgeschlagen, „bis er eine neue Wohnung gefunden hat, sich bei uns mit Wohnsitz anzumelden, damit ihn wichtige Post erreichen kann“. Der Junge übernachte aber nur selten in Gladbeck, halte sich vorrangig bei Freunden und Bekannten auf.

Nach der Polizeirazzia habe sie ihn sofort aufgeregt und weinend angerufen, berichtet die 58-jährige weiter. „Er hat erzählt, dass er nicht an dem Angriff beteiligt war. Er wollte sofort zu uns kommen, sich stellen.“ Sie habe ihm geraten, erst mit seinem Anwalt zu sprechen. Der habe dann die Polizei in Essen kontaktiert, dass sein Mandant offensichtlich als Beschuldigter gesucht werde. „Er hat dann als Antwort bekommen, dass gegen meinen Sohn nichts vorliegt“, so die Mutter weiter. Ihr sei auch nicht bekannt, dass ihr Sohn als Fan oder sonst wie schon ‘mal Probleme mit der Polizei wegen Straftaten hatte, „und gewalttätig oder ein Rädelsführer ist er schon mal gar nicht“.

Das Gladbecker Paar wurde durch die Razzia traumatisiert und ist krankgeschrieben

Unterschiedlich große Splitter aus den Trümmern der Tür sind wie Schrotkugeln durch den Flur bis ins Wohnzimmer geflogen und haben Einschläge an Wänden und Gegenständen hinterlassen.
Unterschiedlich große Splitter aus den Trümmern der Tür sind wie Schrotkugeln durch den Flur bis ins Wohnzimmer geflogen und haben Einschläge an Wänden und Gegenständen hinterlassen. © Reiner D.Für Veröffentlichung zum Thema frei gegeben | Reiner D.

Das Gladbecker Paar ist seit der Razzia traumatisiert und krankgeschrieben. „Wir können nicht mehr richtig schlafen, werden bei dem kleinsten Geräusch mit klopfendem Herzen wach.“ Sie plagten seitdem richtige Angstzustände, „eine Art Verfolgungswahn“, sagt die 58-Jährige. „Wir haben schon gezweifelt, ob wir mit diesen schrecklichen Erinnerungen hier wohnen bleiben können, obwohl das unser Traumhaus mit einer hervorragenden, hilfsbereiten Nachbarschaft ist, die das Vorgehen der Polizei auch geschockt hat“, so das Paar.

Das Vertrauen in die Polizei und den Rechtsstaat sei tief erschüttert. „Wir können nicht verstehen, warum so unverhältnismäßig brutal vorgegangen wurde, wie bei der Jagd nach einem bewaffneten Schwerstverbrecher oder Terroristen.“ Sie seien doch ganz normale redliche und friedliche Bürger, die der Polizei sofort die Tür geöffnet hätten.

Rainer D. zeigt die Stelle in der Wand, in der der Eisenträger der gesprengten Tür wie ein Speer tief eingedrungen ist. Es sei Glück gewesen, dass er oder seine Frau nicht im Flur gestanden hätten, so nicht verletzt wurden.
Rainer D. zeigt die Stelle in der Wand, in der der Eisenträger der gesprengten Tür wie ein Speer tief eingedrungen ist. Es sei Glück gewesen, dass er oder seine Frau nicht im Flur gestanden hätten, so nicht verletzt wurden. © FUNKE Foto Services | Michael Korte

Weder den Sohn noch Beweismittel hätten die Beamten bei der Razzia gefunden. Lediglich ein altes Schalke-Trikot und zwei Fan-Schals seien als mögliche Trophäen des Überfalls mitgenommen worden, erzählt Reiner D.: „Obwohl ich gesagt habe, die gehören meiner Frau, das wollte aber wohl keiner hören.“ Im Nachgang des für sie traumatisierenden Einsatzes sei auch kein Polizist auf sie zugegangen, „um uns über therapeutische Hilfen aufzuklären“ oder diese anzubieten. Immerhin wüssten sie mittlerweile, „dass die Polizei wohl für den angerichteten Sachschaden aufkommt“, den beide auf mindestens 30.000 Euro schätzen.

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Die Gladbecker haben über ihren Anwalt Akteneinsicht verlangt und Strafanzeige gegen die für den Einsatz zuständigen Polizeibeamten wegen Körperverletzung und Sachbeschädigung gestellt. Mit dringender Aufforderung zu prüfen, ob das Vorgehen den strafrechtlichen Tatbestand des Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion nach § 308 Strafgesetzbuch erfülle, die Leib oder Leben anderer Menschen gefährdet.

Die Antwort der Polizei auf den Fragenkatalog fällt relativ knapp aus

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Die Redaktion hat die zuständige „Soko“ der Polizei in Gelsenkirchen mit einem Fragenkatalog um Auskünfte zu den Gründen ihres Vorgehens und zu den Vorwürfen der Gladbecker gebeten. Die Antwort fällt relativ knapp aus: „Zu unserem Einsatz am vergangenen Donnerstag, 9. März 2023, können wir aus einsatz- und ermittlungstaktischen Gründen sowie aus Gründen des Datenschutzes keine Auskunft erteilen“, so Polizeisprecher Stephan Knipp.

Zu weiteren Fragen zur Zuständigkeit sagt der Polizeisprecher: „Dass rechtsstaatliches Handeln nachvollziehbar sein muss und Schutz vor staatlicher Willkür bietet. Daher teilt die Polizei mit, wer bei etwaigen Sachbeschädigungen zuständig ist für etwaige Ansprüche“. Zudem könne jederzeit „rechtsstaatliches Handeln gerichtlich überprüft werden“. Sofern die Polizei Kenntnis über traumatisierte oder verletzte Personen erhalte, „bietet sie auf Nachfrage Ansprechkontakte an, an die sich die betroffenen Personen wenden können“.