Gelsenkirchen. Als Otto Gläsel seine Geigenbauwerkstatt kurz nach dem Ersten Weltkrieg in Gelsenkirchen einrichtete,gab es in der aufstrebenden Bergbaustadt zwar schon viele Vereine, aber noch wenig Kultur. Heute gibt es hier eines des renommiertesten Musiktheater – und Gläsels Enkel repariert immer noch Geigen.

1919 – in dem Jahr wurden in Gelsenkirchen vor allem Sportvereine gegründet. Darunter viele, die heute noch aktiv sind, wie die Spielvereinigung Westfalia Buer, der SC Buer Hassel, die Brieftaubenliebhaber Reisevereinigung Gelsenkirchen Buer und DJK Falke Gelsenkirchen.

Der Geigenbauer Otto Gläsel wagte es trotzdem in dieser kulturell noch eher jungfräulichen Bergbaustadt: Er eröffnete seinen Musikalienhandel Gläsel an der Gildenstraße 12. Zwar gab es auch in Gelsenkirchen zu der Zeit schon eine Volksbühne. Symphonieorchester aber hatten bis dato nur Essen, Dortmund und Duisburg, das Bochumer wurde just 1919 gegründet, in Gelsenkirchen sollte das noch dauern.

Nach dem Krieg wurden Naturalien gegen Instrumente bzw Reparaturen getauscht

Doch Otto Gläsel wusste wohl, was er tat. Aus einer alten Geigenbauer-Familie stammend, behauptete er sich und sein Lädchen samt Geigenbauwerkstatt in der noch jungen Großstadt.

Das Haus blieb im Zweiten Weltkrieg von Bomben verschont, so dass der Handel auch nach dem Krieg relativ schnell weitergehen konnte. Auch hier wurde in jenen Jahren mit Naturalien gehandelt, wurden Instrumente schon mal gegen Lebensmittel getauscht. Doch auch das Theater begann erstaunlich schnell nach dem Krieg wieder zu arbeiten: Die Menschen hungerten auch nach Kultur, was dem Musikalienhandel ausgesprochen gut tat.

Gitarrenbau in Mittenwald gelernt

Bis Mitte der 50-er Jahre führte der Gründer das Geschäft, dann übernahm Tochter Irmgard. Allerdings kümmerte sie sich vorwiegend ums Geschäft, da sie keine gelernte Geigenbauerin war. 1979 stieg der Enkel des Gründers, Kurt Gläsel, ein. Der heute 60-Jährige hatte das alte Handwerk des Geigenbaus an der einzigen Geigenbauerschule in Deutschland erlernt, in Mittenwald.

Zu dem Zeitpunkt war der „Musikalienhandel“ bereits drei Häuser weiter gezogen. Die benachbarte Schule musste vergrößert werden, die Stadt bot Gläsel die Gildenstraße 22 an, wo Geschäft und Werkstatt noch heute untergebracht sind, nebst eine Gitarrenschule. Kurt Gläsel konzentriert sich auf Geigenbau und -reparaturen. Im ersten Stock ist seine Werkstatt.

Auch eine Stradivari vertrauten Kunden Kurt Gläsel schon an

Anno 1919 wurde in Geigenbauwerkstätten vermutlich nicht wesentlich anders gearbeitet als heute. Geigenbau ist ein Handwerk im absolut wörtlichen Sinne. Das feine Holz wird per Hand bearbeitet, der Knochenleim im Kochtopf auf einer Kochplatte verflüssigt, an der Wand klemmen Feilen in allen Größen und Stärken. Gegenüber hängen Rosshaarbüschel für die Bögen. Wird einer damit bespannt, erweicht Kurt Gläsel das Kolophonium – das bernsteinfarbene Baumharz – über einer Öllampe, um damit die Enden der Bogenbespannung zu verkleben. Die Bögen selbst sind zugekauft – Bogenbauer ist ein eigener Lehrberuf.

Dass Kurt Gläsel Geigen selbst baut – dazu kommt es zu seinem Leidwesen immer seltener. Zuviel hat er mit Reparaturen zu tun. Schon manchem Klangjuwel hat er zu einem neuen Leben verholfen, auch eine Stradivari vertraute ihm ein Violinist schon zur „Heilung“ an. Auf der Werkbank liegt in der Mitte eine eigene Geige im Frühstadium – im vergangenen Jahr hat Gläsel damit angefangen. Er kommt einfach nicht dazu, weiter zu bauen.

Im Musikalienhandel gibt es Saiteninstrumente in fast allen Spielarten 

Nachfolger in der Geigenwerkstatt sind bislang leider nicht in Sicht. Bis zum 100-Jährigen im Jahr 2019 will Kurt Gläsel auf jeden Fall selbst weiter machen. Was danach aus der Werkstatt wird, ist noch offen. Es wäre ja noch genug Zeit für einen interessierten Nachfolger, sich ausbilden zu lassen. . . João Inocêncio, der Chef des Musikalienhandels im Erdgeschoss, traut sich da eher nicht ran, und seine Kinder sind noch deutlich zu jung.

Im Laden im Erdgeschoss ist heute der ehemalige Lehrling der Chef: João Inocêncio. Der 35-Jährige Essener mit portugiesischen Wurzeln übernahm das Geschäft im Jahr 2000. Der gelernte Musikalienhändler spielt selbst Gitarre, hat in seinem Laden aber eigentlich „alles außer Tasteninstrumenten“. Wobei der Schwerpunkt natürlich auf Geigen und akustischen Gitarren liegt.

Bei Gitarren sind auch Eigenmarken im Angebot

Geigen gibt es in allen Größen, von der Viertelgeige für Kinder bis hin zum Cello und Kontrabass. Auch bei den Gitarren reicht es vom Einsteigermodell bis zur hochwertigen Konzertgitarre, zum Teil sind es Eigenmarken, die im Auftrag von Gläsel hergestellt werden. E-Gitarren sind die Ausnahme, üppig ist jedoch auch die Zahl der Blockflöten.

Auch ein Saxophon steht in der Vitrine. Es ist nagelneu, sieht aber aus, als hätte es schon viele Kellerjahre hinter sich. So will der Kunde das heute haben. Ähnlich wie zwischenzeitlich Querflöten der Renner waren und die Geige ein Zwischenhoch hat dank David Garrett. Moden kommen und gehen, Geige und Gitarre bleiben; das weiß auch schon der selbst noch junge Chef.

Auf der Homepage sind auch Raritäten zu sehen, für die der Laden zu klein ist

Kleinere Reparaturen an Gitarren macht Inocêncio unten selbst in der kleinen Werkstatt im Hinterzimmer. Ansonsten geht neben den Instrumenten vor allem Zubehör: Saiten, Plektren, Stimmgeräte, CD-Einspielungen von Begleitinstrumenten zu den wichtigsten Werken und Noten. Allerdings spielen Noten heute eine kleinere Rolle. Vieles wird aus dem Internet gezogen.

Übers Internet verkauft João Inocêncio auch – hier können Kunden ebenfalls sehen, was in dem kleinen Laden keinen Platz gefunden hat. Eine Gläsel-Filiale gibt es übrigens auch in Essen, die führt gläsels Bruder Ulrich. Die Zentrale aber: Die ist und bleibt an der Gildenstraße in Gelsenkirchen.