Gelsenkirchen. . Ist im Ersten Weltkrieg eigentlich jemand aus der Familie gefallen? Wie war das eigentlich? In vielen Gelsenkirchner Familien herrscht bei dem Thema großes Unwissen, wie eine WAZ-Umfrage zeigte. Für die Urgroßväter war jene traumatische Zeit tabu und heute gibt es niemanden, den man fragen kann.

Dem Glockenläuten war gestern nicht anzuhören, dass es an den Beginn des Ersten Weltkrieges vor genau 100 Jahren erinnerte. Schließlich läuten die Innenstadtkirchen immer mittags um zwölf Uhr. Und einen extra Presbyteriumsbeschluss zum Gedenkläuten zu erwirken, befand Pfarrer Peter Gräwe dann doch als zu schwer umzusetzen.

Im Bewusstsein der meisten Passanten war der schicksalhafte Stichtag bei einer WAZ-Umfrage ohnehin eher nicht präsent. Über den Ersten Weltkrieg weiß man wenig – weil er in den Familien nie ein Thema war. Ist jemand aus der Familie damals gefallen? Die meisten wissen es nicht. Die Großeltern bzw. Urgroßeltern haben darüber nicht gesprochen. Nie. Und nun sind sie längst verstorben und mancher bedauert, nicht mehr fragen zu können.

Für Bernd Stahl (43) ist auch der vor 100 Jahren begonnene Krieg ein heute noch wichtiges Thema. „Für unsere Geschichte, für die Geschichte Europas ist wichtig zu wissen, was damals geschehen ist. Meine Eltern und Großeltern haben auch kaum darüber gesprochen. Aber mit meinen vier Kindern ist das schon ein Thema. Nicht dauernd, aber wenn es sich gerade anbietet.“

Die Gefallenen in der Familie waren stets tabu

Heinz-Peter Nauen zählt auch zu denen, für die der 1. August 1914 ein wichtiges Datum ist. „Mein Uropa ist im Ersten Weltkrieg gefallen. Aber da hat in der Familie keiner drüber gesprochen. Über den Zweiten Weltkrieg hat mein Vater schon mal was erzählt. Aber er war damals sehr jung, hat nur im Spielmannszug mitgemacht und hat entsprechend nur Positives erzählt. Und im Geschichtsunterricht in der Schule wollte sich damals auch keiner erinnern. Beide Weltkriege kamen da nicht vor“, betont der 54-Jährige.

In der Familie von Maren Voetzsch (23) war das Dritte Reich und der Zweite Weltkrieg oft ein Thema: „Aber über den Ersten Weltkrieg hat mein Uropa gar nichts erzählt. Nie.“ Dagmar Wanke weiß zwar, dass damals Geschwister ihrer Großmutter gefallen sind. Wo und wer, weiß sie allerdings nicht. Über die beiden Weltkriege wird kaum gesprochen in der Familie der Gelsenkirchenerin.

Der Vater war beim D-Day am Omaha Beach dabei

Reinhold Lindner (60) und seine Frau Ilona (55) haben sich sehr mit der Geschichte Deutschlands und ihrer Familien beschäftigt. Ihre Vorfahren hatten Glück, in beiden Kriegen wurden keine Familienmitglieder getötet. „Klar, Granatsplitter hatten meine Onkel schon abbekommen, die waren ja in Stalingrad. Aber es ist niemand gefallen.“ Der Vater war 16, als er eingezogen wurden. Am D-Day, am 6. Juni 1944 in der Normandie war er dabei, schoss befehlsgemäß auf die landenden Soldaten. Und kam in Kriegsgefangenschaft. „Aber er wurde entnazifiziert. Er war ja so jung. Er hat nie davon gesprochen bis kurz vor seinem Tod 1999: Da wollte er wohl noch mal loswerden, was auch er damals mitgemacht hatte am Omaha Beach mit dem Maschinengewehr. Auf jeden Fall hat er da noch einmal zurückgeblickt.“

Ein liebevoller Opa

Reinhold Lindner schluckt kurz: „Aber wir hatten großes Glück: Er war ein liebevoller Vater und Opa. Wir hatten eine schöne Kindheit trotz der Flucht aus Weißensee 1953 und dem Neubeginn im Lager in Unna.“ Mit seinen Kindern haben beide schon öfters über den Krieg gesprochen. Und darüber, wie gut es ist, keinen selbst zu erleben.