Gelsenkirchen. Wer wissen will, wie sich Menschen aus dem Ruhrgebiet an Front und Heimatfront fühlten, muss ihre Post lesen. Das hat Daniel Schmidt vom Institut für Stadtgeschichte in Gelsenkirchen getan. Seine Erkenntnisse sind verblüffend.

Feldpost ist Leben. Was in dem Brief drin steht, ist, wenn man es nur ein klein wenig zuspitzt, zweitrangig. „Post von der Front hatte vor allem die Funktion eines Lebenszeichens“, sagt Daniel Schmidt vom Institut für Stadtgeschichte in Gelsenkirchen. Ein Brief, nach Wochen. Er lebt! Das ist erst 100 Jahre her und doch schwer vorstellbar heute, wo man Milliarden Menschen auf der Welt alles sofort mitteilen kann.

Das Vorwort fehlt noch, ein paar Restarbeiten, dann ist es geschafft. Dann kann Schmidt, der 36-jährige Historiker, seine erste Arbeit mit der Feldpost beenden. Rund 1000 Briefe aus dem 1. Weltkrieg in Deutscher Kurrentschrift – das war die Schrift noch vor Sütterlin – hat er auseinandergefaltet und gelesen, bewertet, gewichtet und ausgewählt; alles Briefe aus oder nach Gelsenkirchen, Buer und Wattenscheid. Nun, im Sommer des Jubiläums, soll eine kommentierte Auswahl erscheinen. Der Titel ist programmatisch: „Bin noch gesund und munter.“

„Liebes Lieschen! Sende dir hiermit die besten Grüße von hier und teile dir mit, dass ich noch gesund und munter bin. Erhalte von dir aber wenig Post. Nochmals Gruß dein Wilhelm“ (1915).

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Acht Milliarden Briefe von der Front

Unvorstellbare acht Milliarden Briefe schrieb die Front nach Hause, und elf Milliarden Briefe schrieb die Heimat an die Front. Es gab eine Zensur, doch blieb sie eine Schattengestalt bei dieser Flut. Die Themen also? Politik, die Familie, Klatsch und Tratsch, Ereignisse in der Heimat, das Wetter, die Ernährungslage, der nächste Urlaub. Und weit weniger als erwartet: Kriegserlebnisse.

„Geehrte Frau Schossier! Sende Ihnen die besten Grüße von hier, mir geht es noch immer recht gut, was ich von Ihnen auch hoffe; wir befinden uns noch immer auf dem Vormarsch in der Nähe von Bialystok, wir sind schon weit hinter Warschau. Täglich finden hier Gefechte statt. Diese Karte ist eine Aufnahme unserer Batterie, da bin ich auch mit drauf und ist die Aufnahme zu klein, unter dem Pfeil am hinteren Geschütz das bin ich. Besten Gruß sendet A. Münzberg. Hoffentlich ist mit dem Russen bald alle“ (1915).

"Starke Siegeszuversicht bis in den Sommer 1918"

Aus den Briefen spreche eine „starke Siegeszuversicht bis in den Sommer 1918. Dann kippt das“, sagt Schmidt. Neben der staatlichen Zensur gab es auch eine „Zensur im Kopf, den Empfänger nicht zu beunruhigen“. Da fällt das folgende Beispiel ziemlich aus der Reihe.

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„Was habe ich für traurige, unmenschliche Bilder gesehen. Die Toten ließ man tagelang am Wege liegen. Die Beine, der Kopf oder die Brust zerschossen, an den Wunden die Fliegen und Brummer, und wie sahen die Toten sonst aus, nicht zu sagen, und dann der Geruch. Die letzte Nacht mussten wir in den vordersten Graben und hätte ich bald einem Toten auf den Kopf getreten. Aber wie merkwürdig kalt mich das alles lässt, keine Angst, kein Ekel, nichts – höchstens Mitleid und furchtbare Wut auf die Kriegshetzer“ (1917)

Briefe belegen auch Geschehen in der Heimat

Besonders aufschlussreich ist die Feldpost aber, wider jede Erwartung, über das lokale Geschehen – über das weiß man wenig, hat als Quellen praktisch nur Akten und Zeitungen. Aus den Briefen erfuhr Schmidt, dass es „schon im Herbst 1916 in Gelsenkirchen zu Lebensmittelunruhen kam. Es gärte in den Warteschlangen, Leute fauchten sich an“. Und die Stimmung wurde immer trostloser angesichts „extremer Arbeit und gleichzeitig massiver Einschränkung bei Nahrung und Freizeit“.

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„Lieber Bruder“, schreibt eine junge Gelsenkirchenerin, „aus Langeweile schreibe ich dir dies Kärtchen. Bin schon in Horst ein bisschen spazieren gegangen, aber hier ist nichts mehr los. Alle Jungens von deinem Alter sind weg . . . Die Jungens die jetzt weg müssen von hier sind dies der Krumm und Hülsmann, dem Kommissar sein Sohn, und Wiemann, der Anstreicher sein Sohn, und Anton Büscher, der auf dem Amte schreibt, auch noch dem Töns, der bei Kramberg hinten einwohnt, sein Sohn. Es müssen noch mehr weg, alle Tage wieder“ (1918).