Gelsenkirchen. Über 5000 Mitarbeiter beschäftigte der Schalker Verein während seiner Blütezeit in Gelsenkirchen-Bulmke. Nun hat der französische Konzern St. Gobain das 1872 gegründete Traditionsunternehmen abgewickelt. Die elf verbliebenen Mitarbeiter hatten am 27. September ihre letzte Schicht.

Wilder Wein klettert am ehemaligen Ärztehaus die Fassade hoch, die Schranke zum Tor 1 an der Wanner Straße ist geschlossen. Das verlassene Gelände gleicht einer Wüste aus Beton und Schutt. Über 5000 Mitarbeiter beschäftigte der Schalker Verein in der Blütezeit in Bulmke. Am 27. September war letzte Schicht für elf verbliebene Mitarbeiter. Der französische Konzern St. Gobain schließt das Kapitel einer bedeutenden Industriegeschichte, mit der Zehntausende in Gelsenkirchen eng verbunden waren.

Nostalgie im Pförtnerhaus. Dutzende von Schlüsseln geben Zeugnis vom einst florierenden Betrieb. Nicht einer fehlt. Mitarbeiter brachten es nicht übers Herz, mit jedem weiteren Stillstand auch die passenden Schlüssel abzuhängen. Anachronistisch erscheint der Hinweis am Werkseingang: Unfallfrei seit 924 Tagen steht dort in großen Lettern.

Gebäude mittlerweile verkauft

Das Gebäude, in dem Sachbearbeiter einst Krankenakten führten und Löhne berechneten, ist längst an einen irakischen Kulturverein verkauft worden. Die Stahlskulptur des früheren Betriebsrates Achim Wagner „Göttin der Wasserwirtschaft“ hat noch keinen anderen Standort gefunden. Einen neuen Besitzer hat das Gesundheitszentrum, in dem der Werksarzt Betriebsangehörige versorgte. Die Halle, in der früher Großformstücke produziert wurden, diente bis zuletzt als Lager.

In der früheren mechanischen Werkstatt wurden Formstücke per Pistole von Hand mit Kunststoff beschichtet. Die meisten Arbeitsmittel landen auf dem Schrott. Voll funktionsfähig ist die Karussell-Drehbank, die auf den Weg nach Indien geht. In der Rohrgießerei, die in den 20er Jahren gebaut wurde, machte das Schleudergussverfahren die Gelsenkirchener Gussrohre zum Markenzeichen auf dem Weltmarkt. Tübbings für den U-Bahn-Bau in Sao Paulo, den Hamburger Elbtunnel oder auch den U-Bahn-Abschnitt in Gelsenkirchen sind Produkte des „Schalker Verein“. Alles nur noch Geschichte.

Arbeitgeber für Familien

Die verbliebenen elf Mitarbeiter sitzen bei der letzten Schicht zusammen, viele können die Tränen nicht unterdrücken. Achim Wagner (61), der vor 47 Jahren als Schlosser angefangen hat, zweifelt an der unternehmerischen wie auch sozialen Verantwortung des Arbeitgebers. „St. Gobain hat nur das Elend verwaltet, nicht einen Cent investiert.“ Der Konzern unterhalte mehrere Unternehmen in der näheren Umgebung, aber nur einen Kollegen habe man an ein Tochterunternehmen vermittelt. Der ehemalige Betriebsrat erinnert sich an Rheinstahl- und Thyssen-Zeiten: „Damals hat man sich für Mitarbeiter eingesetzt, sie an andere Gießereien und Hochofenbetriebe innerhalb des Konzerns vermittelt.“

Für Gürsel Yasan ist der Schalker Verein zur Familie geworden. Schon Vater, Onkel und Bruder waren in Bulmke beschäftigt. Der 53-Jährige ist traurig, wie es zu Ende gegangen ist. Aussicht auf einen neuen Job habe ihm das Arbeitsamt nicht gemacht. 100 Bewerbungen hat der zweifache Familienvater geschrieben. Horst Launert (60), ehemaliger Betriebsrat, quält es, jüngere Kollegen ohne Perspektive zu sehen. „Ich wollte eine Kerze aufstellen, selbst die hat man weggestoßen“. Jeweils zwei Flaschen Wein gab’s für die letzten Elf zum Abschied. Das war’s.

Die Zukunft bestimmen Discounter nebenan und neue Gewerbebetriebe, die sich auf dem Gelände noch ansiedeln wollen. Arbeitsplätze kommen scheibchenweise. Dem Schalker Verein und den Ehemaligen bleibt nur die Erinnerung an einen Stadt- und Stadtteil prägenden Betrieb, der Tausenden Familien den Lebensunterhalt garantierte. Die Rheinstahl-Philosophie - „Das Feuer glüht heute und morgen“ – sie ist Vergangenheit. Die heutige Grabesstille um Tor 1 kann der jüdische Friedhof gegenüber nicht treffender symbolisieren.

Bedeutende Stadtgeschichte 

Mit dem endgültigen Aus des letzten industriellen metallverarbeitenden Großbetriebs verliert die Stadt ein bedeutendes Stück Stadtgeschichte. Aktive und Beobachter erinnern sich.

Der Historiker

Für Prof. Stefan Goch, Leiter des Instituts für Stadtgeschichte, steht fest: Per Salamitaktik sei das langsame Sterben des Schalker Vereins eingeleitet worden. Die Ideen des innovativen Unternehmens seien von anderen abgekupfert worden. Für die Stadt stelle sich die Frage, wie sie ein neues Profil gewinnen könne. 53000 Arbeitsplätze im Bergbau und 30000 Arbeitsplätze in der Metall verarbeitenden Industrie habe Gelsenkirchen verloren. Goch: „Bisher hat die Stadt den Strukturwandel friedlich im Dialog zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern hinbekommen. Was die Infrastruktur betrifft, ist Gelsenkirchen gut erschlossen.“

Der Gießereileiter

Klaus Funk (73), bis Ende 2000 Leiter der Rohrgießerei, glaubt, dass St. Gobain 1998 den Schalker Verein mit dem strategischen Ziel gekauft habe, den wichtigen Konkurrenten schließen zu können. Schon bei der Übernahme durch Thyssen habe die Rohrproduktion nicht zum Kerngeschäft des Konzerns gehört. „In Spitzenzeiten produzierten wir 70 Prozent für den Export. Die Kuwaitis hatten schon alles bezahlt, ehe die ersten Rohre dort angekommen sind. Doch China unterbot alle Preise, später stimmte auch die Qualität ihrer Produkte. Weltweit existierten 23 Schleudergießereien und wir hatten eine davon. In Spitzenzeiten wurden bis zu 150.000 t jährlich produziert. Dass Gussrohrgeschäft ging auch zurück, weil die Tendenz zum Kunststoff zunahm. Wenn ich sehe, was heute übrig geblieben ist, kommen mir die Tränen.“

Der Betriebsrat

Jürgen Schäfers (65), ehemaliger Betriebsratsvorsitzender, sah den Schalker Verein als vorbildlichen Betrieb für den Stadtteil. „Er baute Wohnungen, gewährte eine Reihe von sozialen Leistungen, unterhielt eine eigene Werksberufsschule. Wir bildeten auch für andere Betriebe aus. In Spitzenzeiten hatten wir 200 Auszubildende über alle Lehrjahre. Mit den Sozialplänen in den 80er Jahren waren die ausgeschiedenen Kollegen gut abgesichert. Das gute Betriebsklima mit vorbildlichen Vorgesetzten förderte den Zusammenhalt in der Belegschaft. Man fühlte sich als Mannschaft.“

Der Verbindungsmann

Gerd Hombücher hat nicht nur den Gemeinschaftsgeist der Rheinstahltruppe kennengelernt, sondern auch die gute Seele der Ägypter. Als Verbindungsmann zu ägyptischen Staatsfirmen führte er fünf Jahre lang die Rheinstahl-Truppe bei der Rohrproduktion für den Bau von Wasserleitungen. „Vorher hatten wir zahlreichen ägyptischen Kollegen das Know how bei uns vermittelt.“ Seine Philosophie, „der Mensch ist das Wichtigste im Betrieb“, sei auch die Einstellung der meisten seiner Kollegen gewesen. Der heute 84-Jährige war Betriebschef in der Rohrgießerei und ging 1992 in Rente. Ihm imponierte auch die soziale Einstellung seines Arbeitgebers und die enge Verbundenheit mit dem Stadtteil. So habe der Schalker Verein den vier Kirchen in Bulmke und Hüllen nach dem Krieg eine Million Mark für den Wiederaufbau gespendet.

Soziale Leistungen

Schon in den ersten Jahren nach Gründung des Unternehmens überlegte das Management, wie es seine Mitarbeiter langfristig ans Werk binden könnte. Es waren sicherlich nicht nur altruistische Gründe, warum die Industriellen so fürsorglich handelten. Sie brauchten zum Ausbau der Produktion dringend Arbeitskräfte. Die ersten Werkswohnungen werden in den 1880er Jahren gebaut. Im Laufe der Jahre entstehen 42 Arbeiterhäuser, 150 Wohnungen, acht Wohnhäuser für Direktoren, ein Ledigenheim für 110 Arbeiter. Mitarbeitern werden Bauplätze angeboten. Den täglichen Bedarf an Lebensmitteln deckt ein Konsumgeschäft.

Montanmitbestimmung

Im 2. Weltkrieg werden 1086 von 2712 Werkswohnungen zerstört. Das Gefühl der Zusammengehörigkeit zur Schalker Vereins-Familie entwickelt sich in den 50er Jahren. Montanmitbestimmung führten neben der sozialen Absicherung auch zu einer Werkstreue. Der Schalker Verein war der zentrale Arbeitgeber in Bulmke und Hüllen. Wer in Bulmke beschäftigt war, der konnte damit rechnen, eine Werkswohnung zu beziehen. Auch durch die sozialen Leistungen des Unternehmens fühlten sich die meisten mit ihrem Arbeitgeber verbunden. Geburtsbeihilfen, Werkskindergärten, Kinderkuren, Kinderfeste, Freizeitgestaltung gehörten zum sozialen Angebot. Für die Erholung stand Familien das Ferienheim Haus Rheinberg bei Lorch am Rhein zur Verfügung.

Auszubildende konnten die eigene Werksberufsschule besuchen und die Turnhalle benutzen. Und wer Gäste bewirten wollte, der konnte sie ins betriebseigene Werksgasthaus Im Mühlenfeld in Bulmke einladen.

Industriegeschichte über 141 Jahre 

1872 Als der Schalker Gruben- und Hüttenverein 1872 gegründet wird, prägen landwirtschaftliche Betriebe Gelsenkirchen. Doch schnell folgen Eisen und Stahl der Kohle. 1874 wird der erste Hochofen angeblasen. Der zweite folgt acht Jahre später. Das Unternehmen expandiert, August Thyssen erwirbt ein Viertel der Anteile. Das Hochofenwerk wird ausgebaut zur Produktion von Roheisen für die Gießerei, später zur eigenen Herstellung der Gussrohre.

1890 Ende des 19. Jahrhunderts ist die Blütezeit für das Unternehmen. Hochofen 3, 4 und 5 wie auch eine eigene Kokerei gehen bis 1899 in Betrieb. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts produzieren sechs Hochöfen. Sie geben 1200 Beschäftigten Arbeit. Doch die Zechenherren und Schlotbarone gelten als autoritäre und selbstherrliche Arbeitgeber. Tarifverträge gibt es nicht.
1914 Zwischen 1914 und 1918 stellt das Werk die Produktion fast ganz auf Kriegsmaterial um, Kriegsgefangene, Jugendliche und Frauen müssen mitarbeiten. In den 20er Jahren entwickelt der brasilianische Ingenieur de la Vaud das „Schleuder- und Zentrifugal-Gussverfahren“. Das Schalker Gussrohr wird ab 1926 zum weltweiten Qualitäts-Markenzeichen. Angriffe auf gewerkschaftliche Rechte führen 1928 zum „Ruhreisenstreit“. Einen Monat lang werden Arbeitnehmer ausgesperrt.

1933 Die Nazis zerstören ab 1933 gewerkschaftliche Strukturen, setzen Betriebsräte ab, finden folgsame Mitstreiter in den Führungsetagen. Ab 1939 werden Waffen für die Kriegsführung hergestellt. In zehn Lagern leben bis zu 2500 Zwangsarbeiter aus sechs Nationen, die beim Schalker Verein schuften müssen. 1200 Bomben treffen den Schalker Verein. Im November 1945 kann der 1. Hochofen wieder angeblasen werden. Auch die Röhrengießerei arbeitet bald wieder.

1952 Nach der Neuordnung der Eisen- und Stahlindustrie und der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) in den 50er Jahren erleben die „Rheinstahl Eisenwerke Gelsenkirchen AG“ ihre zweite Blütezeit. Das Werk beschäftigt 5300 Mitarbeiter. Auf dem 2 Kilometer langen Gelände sind ein Hüttenwerk mit vier Hochöfen, Erz-Sinteranlage, Kraftwerk, Zementwerk, drei Rohrgießereien, zwei Formgießereien und eine Hüttenwolleanlage in Betrieb. Die enormen Ausmaße des Geländes werden deutlich durch die Verlegung von 77 km Normalspur- und 14 km.

1957 Mit der Montanmitbestimmung in den 50er Jahren bilden sich wieder demokratische Strukturen im Werk. Investitionshilfen der gewerblichen Wirtschaft und 134 Mio DM eigene Investitionen fließen in die Modernisierung der Anlagen und die Wiederherstellung des Hochofens 4. Das Werk firmiert wieder unter dem Namen „Rheinstahl Hüttenwerke AG, Werk Schalker Verein“. Die ersten Überkapazitäten bekommt auch Rheinstahl zu spüren, deren Produktion von internationaler Konkurrenz bedrängt wird. Geringere Nachfrage, hohe Fixkosten, Subventionen ausländischer Eisen- und Stahlerzeuger lassen in den 60er Jahren ahnen, dass es weiter abwärts gehen wird.

1973 steigt der Thyssen-Konzern ein, die „Thyssen Schalker Verein GmbH“ produziert nun überwiegend Gießereiroheisen, Gussrohre und Formstücke. Zwischen 1970 und ’78 gehen über 1000 Arbeitsplätze verloren. Politiker, Verbände, Gewerkschaften und Kirchen schließen sich Massenprotesten an, als Thyssen 1981 über die Schließung des letzten Hochofens nachdenkt.
1982 Nach dem Aufsichtsratsbeschluss 1982 zur Stilllegung des Hochofens erledigt sich das Thema durch die Explosion des Hochofens schneller als gedacht. Noch 1000 Beschäftigte zählt das Werk in den 90er Jahren. Die Hälfte des Werksgeländes liegt brach. Für die Röhrenproduktion wird Roheisen aus Duisburg per Bahn zur Röhrengießerei angeliefert. Im April 1999 steigt die französische Industriegruppe St. Gobain ein. Die verbliebenen Mitarbeiter scheiden nach und nach über Sozialpläne und betriebsbedingte Kündigungen aus.

2004 Die Eisengussproduktion endet 2004 mit nur noch 160 Mitarbeitern. In der Endphase werden noch Gussformstücke für Wasserrohrsysteme beschichtet. Gleichzeitig ist in Tschechien eine Betonieranlage für die Herstellung von Formstücken im Bau. Die verbliebenen elf Mitarbeiter haben im Oktober ihren letzten Arbeitstag. Die Zeiten, in denen sich der Himmel verfärbte, wenn bei Rheinstahl Hochkonjunktur herrschte, ist endgültig vorbei. Nur der Erzbunker und das unter Denkmalschutz stehende Pförtnerhäuschen erinnern auf dem Gelände noch an die Blütezeit des einst größten Rohrproduzenten und Arbeitgebers in Gelsenkirchen. St. Gobain-Personaldirektor Wolfgang Esser sieht das Ende einer industriellen Ära mit emotionslosem Abstand: „Es ist abgewickelt.“