Gelsenkirchen. Wenn Wolfgang König von seiner Kindheit spricht, dann kommen Vater und Mutter selten vor – dafür Schwestern und Erzieherinnen im Heim St. Josef. Dort wuchs der Gelsenkirchener auf. Mit seinen früheren „Brüdern“ auf Zeit feiert er am Samstag im Revierpark Wiedersehen.

Wenn Wolfgang König (61) Geschichten aus seiner Kindheit erzählt, dann benutzt er oft das Wort „wir“: Wir haben zusammen Hausaufgaben gemacht. Wir haben beim Renovieren geholfen. Wir haben mit 40 Jungen in einem Saal geschlafen.

Wenn Wolfgang König von seiner Kindheit spricht, kommen nie schrullige Tanten oder nervige Geschwister vor. Nicht mal ein Vater. Keine Mutter.

König ist nicht in einer normalen Familie aufgewachsen. Seine Kindheit verbrachte er im katholischen St.-Josef-Kinderheim an der Husemannstraße in der Altstadt. Seine Familie waren eine Ordensschwester, eine Erzieherin sowie knapp 40 Brüder. Manche älter, manche jünger. „Natürlich gab es unter uns Kindern Konkurrenz“, sagt er, „man hat die Nähe der Erzieherin gesucht, weil wir so etwas wie Mutterliebe und Familienzusammenhalt nicht kannten.“

Trotz dieser schwierigen Umstände blickt König ohne Groll zurück. „Ich kann nichts Schlechtes sagen. Diese Geschichten über Prügel und Missbrauch – ich habe das nicht erlebt.“ Strafen habe es zwar gegeben, die hätten sich aber auf Unannehmlichkeiten wie das „in-der-Ecke-stehen“ beschränkt. „Der Schwester einen Streich zu spielen, hat sich eh keiner getraut – wir hatten viel zu großen Respekt.“

"Heimkinder gehen auf Reisen"

Besonders schön sei es immer an Weihnachten gewesen. „Da wurden wir zu einer Feier in eine Kneipe eingeladen“, sagt König. Auch an die Sommerferien denkt er gerne zurück: „Wir sind mit dem Zug ins Münsterland gefahren. Auf dem Weg zum Bahnhof haben wir unsere Fahne geschwenkt und gesungen – da wusste die ganze Stadt: ,Die Heimkinder gehen auf Reisen.’ Das sind tolle Erinnerungen.“

Mit einigen seiner „Brüder“ trifft sich König noch heute – genau über solche Geschichten rede man dann. Auch zu seiner Erzieherin Inge Bierstätt – „Mitte 70 und Rentnerin“ – hat er Kontakt. Wenn er über sie spricht, wird seine Stimme weich. „Ich bin ihr dankbar. Sie hat mir immer gesagt, ich solle was aus mir machen, hat mich in die Ausbildung vermittelt, mich auf den richtigen Weg gebracht.“ Seit 1974 ist er Landschaftsgärtner im Gesundheitspark Nienhausen, seit 15 Jahren Bereichsleiter der Außenanlage.

Die Frage nach seiner Herkunft, seiner Mutter, dem Grund, warum sie ihn 1952 als Baby weggab, hat Wolfgang König aber immer beschäftigt. „Mit 21 Jahren durfte ich Einblick in die Akten nehmen“, sagt er. Aus denen erfuhr er, dass seine Mutter in Köln wohnte und er zwei Halbgeschwister hat. Einen Bruder und eine Schwester. „Ich bin sehr neugierig, also habe sie kontaktiert. Doch meine Mutter will das bis heute nicht. Sie redet auch nicht über damals. Die Enttäuschung ist groß. Es ist schwer.“

Längst eine eigene Familie

Einzig seinen Halbbruder sehe er ab und an. „Ich werde richtig sauer, wenn ich im Fernsehen diese Sendungen sehe, wo sich Leute nach Jahren in die Arme fallen. Ich habe das anders erfahren“, sagt er und betrachtet nachdenklich seine Hände. „Trotzdem bin ich stolz, meinen Weg gemacht zu haben.“ König hat längst seine eigene Familie. Seine beiden Kinder studieren.

Im Kinderheim schaut er ab und an vorbei. „Früher waren es viele Kriegswaisen, heute sind es oft Kinder aus zerrütteten sozialen Verhältnissen.“ Auch auf der Arbeit wird er immer an seine Kindheit erinnert. Ein Teil des Heims ist ihm bei der Arbeit nah. „Als das Kinderheim in den 1960er Jahren umgebaut wurde, wurden Teile des Bauschutts hier verbuddelt – damit wurde ein Hügel aufgefüllt.“

Seit über 20 Jahren treffen sich die ehemaligen Kinder des St. Josef Kinderheims jedes Jahr im Juni. „Meistens kommen zwischen zehn und 20 Ehemalige“, sagt Wolfgang König. Er selbst übernimmt die federführende Planung, lädt auch die Ordensschwester Bernadette sowie die ehemalige Erzieherin Inge Bierstätt ein. „Auf dieses Wiedersehen freuen sich viele am meisten“, sagt er. Am Samstag, 22. Juni, treffen sich die Jungs, die heute Männer sind, in der Kinderburg des Gesundheitsparks Nienhausen an der Feldmarkstraße 209. Los geht es um 14 Uhr.