Gelsenkirchen. Der Sonderpädagoge Stephan Bortlisz hilft dabei, Regelschulen davon zu überzeugen, ebenfalls Gemeinsamen Unterricht anzubieten. Eines seiner Anliegen: Übergänge sanft gestalten.

Der Lehrer vorne an der Tafel, die Kinder auf ihren Plätzen gebannt nach vorn starrend: Das kommt in der Klasse 2a der Gutenbergschule eher selten vor. Vielleicht mal, wenn Stephan Bortlisz vorliest. Ansonsten lernt meistens jeder nach seinem eigenen Tempo für sich, wahlweise Mathe oder Deutsch, mit verschiedenen Lernniveaus.

Der Sonderpädagoge Bortlisz oder sein Kollege als Klassenlehrer, Marco Hientzsch, gehen dann herum, helfen jedem einzeln. Gibt es neuen Stoff, dann wird meist eine eigene, kleine Gruppe ins „Tobi-Zimmer“ mitgenommen, wie der Raum für die individuelle Förderung hier genannt wird. Kopfhörer helfen denen, die lieber ganz still lernen. Diese – stets wechselnde – Tobi-Gruppe wird dann meist zur Expertengruppe, die in der großen Klasse anderen hilft, den neuen Stoff zu verstehen.

Strenge darf auch hier nicht fehlen

Es ist erstaunlich leise in dieser Klasse mit 27 Kindern, von denen fünf sonderpädagogischen Förderbedarf bescheinigt bekommen haben. Von Kindern geleitete Erzählstunden, Klassenrat, selbstständiges Arbeiten: Das scheint bei diesen Siebenjährigen eine sehr positive Wirkung zu haben. Natürlich ist nicht immer alles Friede, Freude, Eierkuchen. Natürlich gibt es auch Streit. Aber wenn jemand etwa einen anderen schlägt, gibt es eine gelbe Verwarnung. Beim zweiten Fehltritt gibt es Rot und das heißt: Ab in die Nachbarklasse und dort einen Rückkehrplan erarbeiten.

„Raus aus der Situation: Das entspannt, das hat sich sehr bewährt“, erklärt Daniela Pessarra, die heute den erkrankten Klassenlehrer vertritt. Auch die Integrationshelferin muss das Bett hüten, trotzdem läuft hier alles geordnet. Sobald die Stimme von Stephan Bortlisz von liebevoll in streng umschlägt, wird es ruhig, merken alle auf.

Inklusionskoordinator

„Es läuft nicht immer alles so glatt. Aber oft. Es tut den Kindern, die ja auch an Grundschulen ohne Gemeinsamen Unterricht mit sehr unterschiedlichem Lernstand kommen, einfach gut, nach dem eigenen Tempo zu lernen“, ist Bortlisz überzeugt. Er kommt von einer Förderschule, hat sich freiwillig für die Arbeit an der Grundschule Gutenbergstraße gemeldet. Er ist zugleich Inklusionskoordinator. Das heißt, er hilft dabei, Regelschulen zu überzeugen, ebenfalls Gemeinsamen Unterricht anzubieten. Und er hilft, die Übergänge sanft zu gestalten.

Derzeit werden an sechs Regel-Grundschulen in der Stadt 107 Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf unterrichtet. An den weiterführenden Schulen sind es 95 Kinder. Die Gesamtschule Berger Feld bietet schon länger Gemeinsamen Unterricht, ebenso die Hauptschule Frankampstraße.

Die Mulvany-Realschule ist im zweiten Jahr dabei. 2013 sollen drei weiterführende Schulen hinzukommen, darunter ein Gymnasium. Laut Schuldezernent Dr. Manfred Beck das Schalker Gymnasium.

Engpass droht 

Eigentlich haben laut UN-Konvention aus 2006 (!) alle Kinder und Jugendlichen mit Behinderungen das Recht, in Regelschulen unterrichtet zu werden. In Deutschland fehlt jedoch bislang die rechtliche Basis, die die Bedingungen für den Gemeinsamen Unterricht (GU) festschreibt. In NRW gibt es seit September einen Entwurf, der den Rahmen für das Recht auf Gemeinsamen Unterricht festschreibt. Ab August 2013 soll demnach das Recht auf Regelbeschulung für alle Erst- und Fünftklässler sowie die Eingangsklassen zu gymnasialen Oberstufen und Berufskollegs gelten. Ein Jahr später gilt das auch für die nächsthöhere Klasse.

Bislang konnten in Gelsenkirchen alle Wünsche in punkto Gemeinsamer Unterricht erfüllt werden. Aber es werden mehr Eltern, die das für ihr Kind wünschen. Fünfmal so viele Anträge wie sonst gab es 2012. Und wenn plötzlich das Gros der Eltern ihre Kinder mit Förderbedarf an Regelschulen anmelden möchte, wird’s schwierig.

Wo Kinder zieldifferent (Fokus Lernen, Geistige Entwicklung) unterrichtet werden, sieht das Gesetz die Unterstützung durch Sonderpädagogen vor. Allerdings gibt es davon zu wenige. Hier hat man daher 18-monatige berufsbegleitende Fortbildungen organisiert, die Grund- und Sekundarschullehrer auf den GU vorbereiten. Auch die Bezirksregierung Münster hat Fortbildungen organisiert. Aber nicht genug, um alle Regelschullehrer fit für den GU zu machen. Es fehlen Sonderpädagogen. Nachschub ist nicht in Sicht, da es zu wenige Studienplätze gibt.

Unterschiedlichkeit muss normal sein

Schwierig werden die Zeiten für die Förderschulen, wenn zum August auch die Verordnung zu Schulgrößen der Förderschulen wie vorgesehen in Kraft treten sollte. Sechs Förderschulen Lernen gibt es in Gelsenkirchen, davon laufen zwei bereits aus und auch die anderen wären durch die Mindestzahl von 144 Schülern im Bestand gefährdet.

Zwei Förderschulen mit dem Schwerpunkt Geistige Behinderung, eine mit dem Fokus Sprache, eine für Kinder mit emotional-sozialen Störungen und eine für Körperbehinderte gibt es, zudem betreibt der Landschaftsverband solche für Kinder mit Hör- und mit Sehstörungen. Und fast alle sind der Mindestschülerzahl der Vorlage bedrohlich nah bzw. unterschreiten sie. Bisher konnten die Schulen auf Antrag auch mit der Hälfte der Schule betrieben werden. Künftig nicht mehr.

Dabei haben viele Eltern, Schüler und Lehrer auch gute Erfahrung mit den besonderen Lernbedingungen an den Förderschulen gemacht haben. Abgesehen davon, dass eine sehr zeitnahe Aufnahme aller Kinder mit Förderbedarf in Regelschulen schwer realisierbar ist. Die Abstimmung zwischen Bezirksregierung und Kommune laufe gut, betont Schulamtsdirektor Bernhard Südholt, der vor Ort die Schulaufsicht für sonderpädagogischen Förderung in Förderschulen und im gemeinsamen Unterricht hat. Er ist überzeugt: Inklusion ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, an der alle auf allen Gebieten arbeiten müssen. In Schule allein sei das nicht zu stemmen. „Unterschiedlichkeit muss normal sein. Dann ist Inklusion denkbar.“

Ihm zur Seite stehen zwei Inklusionskoordinatoren, die den Gemeinsamen Unterricht in der Stadt weiter befördern und koordinieren wollen: der Realschullehrer Dirk Steiner und der Sonderpädagoge Stephan Bortlisz.

Förderschulen für Kinder mit Sinnesstörungen (Hören und Sehen) könnten künftig in Gruppen an Regelschulen angegliedert werden, hofft Schuldezernent Dr. Manfred Beck. Gespräche dazu laufen, die Gesetzesgrundlage fehlt allerdings dafür noch.