Essen. . Zauberwort „Inklusion“ – doch für die Begleitung behinderter Kinder in den Regelschulen fehlen Fachleute. Betroffen sind davon vor allem die Grundschulen, denen man bei der Inklusion eine Vorreiterrolle zugedacht hat.

Wenn Inklusion die Überwindung gesellschaftlicher Grenzen ist, dann braucht es nicht nur Türoffner, sondern auch Lotsen auf dem neuen, unbekannten Gelände. So sehr Teilhabe etwa in Schule auch politisch gewollt sein mag – ohne diejenigen, die bei der praktischen Umsetzung helfen, geht es nicht. Beim gemeinsamen Unterricht behinderter und nicht-behinderter Kinder kommt den Sonderpädagogen deshalb eine Schlüsselrolle zu. Allein: Es gibt zu wenige. Auch in Essen sucht man händeringend mehr Fachleute.

Betroffen sind davon vor allem die Grundschulen, denen man bei der Inklusion eine Vorreiterrolle zugedacht hat. 15 Grundschulen mit dem Schwerpunkt „Gemeinsamer Unterricht“ (GU) gibt es in Essen, 430 Kinder mit Handicap werden hier zusammen mit Regelschülern unterrichtet. Je nach Förderbedarf der einzelnen Kinder stehen den Schulen für eine bestimmte Zahl von Wochenstunden Sonderpädagogen zur Verfügung, die die Kinder begleiten. Doch die Hilfe fällt in der Realität oft deutlich dürftiger aus als auf dem Papier.

Hintergrund ist in erster Linie der Mangel an qualifiziertem Nachwuchs. „Es gibt derzeit keine Sonderpädagogen auf dem Markt“, sagt die zuständige Schulrätin Karin Lennartz. 50 Sonderpädagogen müssten an den Essener Schwerpunkt-Grundschulen eigentlich im Einsatz sein. Tatsächlich haben nur 32 der Kräfte diese Qualifikation. Die übrigen Stellen sind zum Beispiel von Grundschullehrern besetzt, die diese Aufgabe übernehmen.

Wechselnde Vertretungen

Beispiel Schule an der Rahmstraße: „Wir haben zwei, bräuchten aber vier Sonderpädagogen“, sagt Leiter Jürgen Krisch. „Zwei Stellen sind durch Vertretungen besetzt.“ Krisch weist auch auf das Problem der hohen Fluktuation hin. Besonders tiefe Löcher an einzelnen Schulen stopft die Stadt, indem sie Sonderpädagogen mit einer gewissen Zahl von Stunden an andere Standorte abordnet. Gerade für die „GU-Kinder“ – 33 sind es an der Rahmstraße in Altenessen – sei dieser Zustand nachteilig. „Sie brauchen den Bezug zu einer zweiten Lehrkraft.“

Schwierig ist die Situation auch an der Schule Gerschede. „Uns stehen für 30 Kinder 3,3 Stellen zu“, sagt die stellvertretende Leiterin Meike Scheidgen, „nur eine davon ist fachgerecht besetzt“. Die zweite nimmt eine Vertretung wahr, die dritte wurde schon mehrmals ausgeschrieben, der Rücklauf sei aber mehr als dürftig.

Ähnliche Erfahrungen bei der Personalsuche hat Udo Moter gemacht, Leiter der Maria-Kunigunda-Schule in Karnap. Zwar freut er sich, dass er nach langem Hin und Her eine neue Stelle für einen Sonderpädagogen ausschreiben darf – ob er einen findet, ist aber fraglich. „Von zehn Leuten, die sich auf eine Ausschreibung melden, ist einer ein ausgebildeter Sonderpädagoge – wenn man Glück hat.“

Bezirksregierung wirbt für Nachqualifizierung 

Dass die sonderpädagogische Unterstützung fehlt, sorgt an Schwerpunkt-Schulen auch für schlechte Stimmung unter den Lehrern. Sie fühlen sich allein gelassen mit einer Zusatz-Aufgabe, für die sie weder ausgebildet sind noch bezahlt werden. Sonderpädagogen sind auf der Besoldungsliste des Landes eine Stufe höher eingruppiert als Grundschullehrer. Dennoch schlugen in den vergangenen Jahren offenbar vergleichsweise wenige diesen Berufsweg ein. Die Bezirksregierung wirbt nun bei Grundschullehrern für eine Nachqualifizierung. Binnen eineinhalb Jahren sollen sie sich zu Sonderpädagogen weiterbilden lassen können.

Kurzfristig wird das den Engpass ebenso wenig beheben wie die Tatsache, dass die Stadt gerade angekündigt hat, drei Förderschulen abzuwickeln. Dass deshalb zeitnah große Kapazitäten an Sonderpädagogen frei werden, ist nicht zu erwarten. Das sei auf lange Sicht aber auch der falsche Ansatz, findet man bei der Stadt. „Ich glaube, dass keine Regelschule nur auf die Sonderpädagogen gucken kann, alle Lehrer brauchen entsprechende Kompetenzen“, so Schuldezernent Peter Renzel.

„Man wird den Kindern nicht gerecht“

Doch wie erfolgreich kann Inklusion unter den derzeitigen Gegebenheiten sein? „Der Gemeinsame Unterricht ist prinzipiell sinnvoll, aber es fallen Sachen unter den Tisch“, sagt eine sonderpädagogische Fachkraft, die an einer Essener Grundschule im Einsatz ist. Für jedes Kind einen Förderplan erstellen, es im Unterricht begleiten und Förderung in Kleingruppen anbieten, Lehrer und Eltern beraten, dazu der Verwaltungskram – das sei zufriedenstellend kaum zu leisten, vor allem nicht für Einzelkämpfer, die nebenher ihre fachfremden Mitstreiter einweisen müssten. „Man wird den Kindern nicht mehr gerecht“, so die ernüchternde Bilanz.