Gelsenkirchen. Die Kinderarztpraxen sind „rappelvoll“, die Kinderklinik hat die Kapazitätsgrenze erreicht. Doch nicht nur kranke Kinder fordern die Mediziner.
„Wir werden total überrannt“ – das ist Dr. Katharina Walters prompte Antwort auf die Frage, wie die Situation in ihrer Praxis eigentlich gerade so ist. Ihr Kollege, Dr. Christof Rupieper, benutzt nur ein Wort: „rappelvoll“. Das, was die beiden Kinderärzte und auch ihre Kollegen aktuell beschäftigt, ist eine enorme Virus-Welle. Doch zum reinen Versorgungsauftrag gegenüber angeschlagenen Kindern kommt noch ein weiterer Punkt: Der Umgang mit der „Ressource Kinderarzt“ an sich.
Gelsenkirchener Kinderarzt: Die Eltern werden „frecher und distanzloser“
„Die Praxen platzen aus allen Nähten wegen einer gigantischen Influenza-A-Welle. Auch unser Personal ist nicht immun“, berichtet in diesem Zusammenhang Christof Rupieper. In der Kinder- und Jugendklinik Gelsenkirchen rollt die Infektionswelle ebenso. „Wir sind voll belegt und haben die Kapazitätsgrenze erreicht. Es werden derzeit viele Kinder unter vier Jahren mit Atemwegsinfekten stationär bei uns behandelt. Bis zu einem Viertel aller Patienten in der Akutpädiatrie sind am respiratorischen Synzytial-Virus, am RS-Virus erkrankt“, sagt Dr. Gerrit Lautner, Ärztlicher Direktor an der Kinder- und Jugendklinik.
„In diesem Jahr liegen auch vermehrt ältere Kinder und Jugendliche mit einer Grippeerkrankung auf den Stationen. Bei chronischen Vorerkrankungen entwickeln sich häufiger schwere Krankheitsverläufe, daher wird auch bei bestimmten Patienten die jährliche Impfung gegen Grippe empfohlen.“ Das RS-Virus ist ein Infekt der Atemwege, das bei Früh- und Neugeborenen sowie Kleinkindern obstruktive Bronchitis oder auch eine Lungenentzündung auslösen kann. Die erkrankten Kinder verbleiben oft bis zu sieben Tage und länger stationär und benötigen in dieser Zeit zusätzlichen Sauerstoff. In schwierigen Fällen ist eine intensivmedizinische Versorgung notwendig. Die Symptome des RS-Virus sind meist erkältungsähnlich, wie Schnupfen, trockener Husten, Halsschmerzen oder Fieber.
Gelsenkirchener Ärztin zur Virus-Welle: „So wie jetzt war es noch nie“
Gerrit Lautner rät Eltern, sich gegen Grippe impfen zu lassen: „Gesunde Eltern sind der beste Infektionsschutz für Kinder.“ Diesen Rat teilt auch sein niedergelassener Kollege Christof Rupieper. Jetzt, so Rupieper, trete das ein, was zu erwarten war: Die vergangenen drei Pandemie-Jahre und die damit verbundenen Hygienemaßnahmen haben das Immunsystem nicht wirklich trainiert. „Ich empfehle wirklich jedem: Impfen, impfen, impfen, das ist der beste Selbst- und Herdenschutz.“
„So wie jetzt war es noch nie“, schildert Katharina Walter ihre Erfahrungen. Anderen Praxen in Gelsenkirchen würde es genauso ergehen. „Wir müssen versorgen, auch wenn wir überhaupt nicht mehr können“, sagt sie. „Wir können den Ansturm an Patienten nicht mehr bewältigen“, sagt sie auch.
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„Die meisten, die ich hier sehe, brauchen keinen Arzt“, spricht Kinderärztin Walter offen an, was wahrscheinlich Kern des Problems ist. Die Eltern, sie seien heutzutage unheimlich verunsichert. Sie müssten, davon ist Kinderärztin Walter überzeugt, wieder lernen, mit normalen Infekten – und davon gibt es gerne einmal 14 Stück pro Kindergartenjahr – selber klarzukommen. Das sieht auch Christof Rupieper so, seine Beobachtung: „Man vertraut nicht mehr auf die eigenen Kräfte“, und auch er bemerkt eine „systematische Verunsicherung“ der Eltern, etwa durch die sozialen Medien oder überhaupt das Internet.
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Denn, und das gehört leider auch dazu: „Die Menschen werden zunehmend frecher und distanzloser“, erzählt der Kinder-Pneumologe Rupieper aus seinem Praxis-Alltag. Auch Kardiologin Walter empfindet das so, beschreibt einen „absolut anspruchsvollen und fordernden“ Umgang mit ihr und ihrem Team. Dabei arbeiten die Kinderärzte am Rande der Belastungsgrenze, auch weil beispielsweise geeignetes Personal fehlt. Katharina Walter appelliert daher an alle Eltern: „Seid verantwortungsvoll mit der Ressource Kinderarzt“.