Gelsenkirchen. Wieder einmal ist Gelsenkirchen auf dem letzten Platz bei einer Studie zur Kinderarmut in Deutschland. Doch es gibt einen Lichtblick.

Es ist wieder einmal ein erschütterndes, aber wenig überraschendes Ergebnis: Gelsenkirchen bleibt einer aktuellen Studie der Bertelsmann Stiftung zufolge die Stadt mit der höchsten Kinderarmutsquote in Deutschland. Und Vergleichsdaten aus den vergangenen Jahren zeigen: Die Situation ist im vergangenen Jahrzehnt viel dramatischer geworden.

Dem „Factsheet Kinder- und Jugendarmut in Deutschland“ zufolge gelten Kinder als arm, wenn sie auf Grundsicherung angewiesen sind. Die Unterschiede in Deutschland sind hier extrem: Während die Kinderarmutsquote im bayrischen Roth etwa nur bei 2,7 Prozent liegt, beträgt sie in Gelsenkirchen 41,7 Prozent. In NRW liegt die Quote durchschnittlich bei 18,5 Prozent.

Kinderarmutsquote war in Gelsenkirchen vor fast zehn Jahren noch wesentlich geringer

2014 lag diese Quote in Gelsenkirchen noch bei 35,8 Prozent, wie ein Vergleich mit früheren Studien der Bertelsmann-Stiftung zeigt. Seit 2017 jedoch stagniert die Entwicklung fast: Vor fünf Jahren gab es in Gelsenkirchen eine Kinderarmutsquote von 41 Prozent, 2022 ist sie nun um 0,7 Prozentpunkte höher.

Dass die Kinderarmut 2022 bundesweit erstmalig seit fünf Jahren wieder deutlich angestiegen ist, führen die Studienautoren auf geflüchtete Kinder aus der Ukraine zurück, die seit Juni SGB-II-Leistungen beziehen. In Gelsenkirchen kommt erschwerend hinzu, dass die Zahl der armen Menschen aus Südosteuropa, die über die EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit in die Stadt kommen, seit dem EU-Beitritt von Rumänien und Bulgarien stetig wächst. Wie die WAZ zuletzt berichtete, liegt der Anteil der Regelleistungsbezieher bei den hier wohnhaften Rumänen und Bulgaren bei über 60 Prozent.

Studienautoren: Kindergrundsicherung könnte „Game Changer“ für Kinderarmut in Gelsenkirchen werden

Wie der Schalter in Gelsenkirchen endlich umgelegt werden kann? Die Bertelsmann-Stiftung macht sich mit der Studie stark für die Einführung einer Kindergrundsicherung. „Sie kann tatsächlich ein Game Changer sein“, betont Studienautorin Antje Funcke. „Wenn es uns wirklich ernst ist, dass wir jedem Kind Teilhabe und Bildung ermöglichen wollen, dann braucht es die finanzielle Unterstützung durch eine solche Kindersicherung. Wir müssen endlich umdenken, Kinder müssen mehr der Mittelpunkt der Politik werden.“

Armutsgefährdung

Noch nicht berücksichtigt ist bei der Kinderarmutsquote die Armutsgefährdung. Als armutsgefährdet gelten Kinder, wenn ihre Eltern über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verfügen. Die Studie liefert hierzu keine kommunalen Daten, da das durchschnittliche Jahreseinkommen der Gelsenkirchener jedoch nur bei 32.452 Euro liegt, darf davon ausgegangen werden, dass die Armutsgefährdungsquote hier ebenfalls hoch ist.NRW-weit beträgt die Armutsgefährdungsquote 24,6 Prozent.

Die Reform ist eines der sozialen Kern-Projekte der Ampel-Regierung, am 19. Januar stellte Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) ein Eckpunktepapier dazu vor. Die Kindergrundsicherung soll alle Leistungen bündeln, die es für Kinder in Deutschland gibt, die viele Eltern aber teilweise überhaupt nicht kennen und deshalb nicht in Anspruch nehmen. Bestehen soll die Grundsicherung aus einem einkommensunabhängigen Garantiebetrag wie heute das 250 Euro hohe Kindergeld, aber auch aus einem gestaffelten Zusatzbeitrag, der vom Einkommen abhängt.

So will die schwarz-grüne Koalition in NRW das Thema Kinderarmut anpacken

Studienautorin Antja Funcke ist sich sicher, dass eine gut gemachte Reform vielen Familien in Städten wie Gelsenkirchen sehr helfen würde „Aber das Geld alleine ist es natürlich auch nicht“, sagt sie. „Wir beobachten seit 20 Jahren wachsende Kinderarmut und den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg. Beides muss endlich ernsthaft zusammenbetrachtet werden.“ Eine große Herausforderung sei es da, trotz des Fachkräftemangels eine noch bessere Qualität in Kitas und Grundschulen zu ermöglichen. „Damit wir Bildungschancen für alle entwickeln.“

Welche Ressourcen und gesetzlichen Möglichkeiten die Stadt Gelsenkirchen dafür bekommt, liegt nicht nur am Bund, sondern auch am Land. Marco Schmitz, sozialpolitischer Sprecher der CDU-Fraktion im Landtag, ist der richtige Mann, um die Frage zu beantworten, was die schwarz-grüne Koalition in NRW leisten will. Er macht zum einen auf den „Stärkungspakt NRW“ aufmerksam. Über diesen hat Gelsenkirchen ganz aktuell zusätzlich knapp 4,49 Millionen Euro für soziale Aufgaben erhalten – ein Betrag, der sich aus der hohen Mindestsicherungsquote und Einwohnerzahl in Gelsenkirchen ergibt. „Mit dem Stärkungspakt setzen wir ein deutliches Zeichen gegen Armut und werden unserer sozialpolitischen Rolle gerecht“, meint Schmitz. Die Kommunen können die Unterstützungsleistung selbst frei verwenden.

NRW-Landesregierung plant „Pakt gegen Kinderarmut“

So viel zu den akuten Maßnahmen. Im Koalitionsvertrag zwischen CDU und Grünen festgehalten ist auch, dass die Koalition „in einem breiten Bündnis von Verbänden, Gewerkschaften Kommunen sowie Kindern und Jugendlichen einen ,Pakt gegen Kinderarmut’ als ressortübergreifendes Aktionsprogramm schmieden will“. „Zur Wahrheit gehört dazu, dass wir noch keinen konkreten Umsetzungszeitplan dafür haben“, gibt Marco Schmitz zu. Eine „Konferenz gegen Armut“ im Dezember mit Sozialminister Karl-Josef Laumann (CDU) und Familienministerin Josefine Paul (Grüne) sei hier jedoch der Auftakt gewesen.

Eileen Woestmann, Sprecherin für Kinder und Familie der Grünen-Fraktion im Landtag, nennt noch weitere Initiativen, mit denen „erschreckende“ Zahlen wie in Gelsenkirchen endlich verbessert werden sollen: „Mit dem ,kinderstark’-Programm stärken wir die Präventionsketten in den Kommunen. Wer Kinder stärken will, muss die ganze Familie stärken, deswegen fördern wir Familienzentren in Kitas und Grundschulen. Zusätzlich nehmen wir Alleinerziehende besonders in den Blick und werden dieses Jahr eine Landesfachstelle für Alleinerziehende schaffen.“

Klar ist aber auch für beide Abgeordneten, dass die Kindergrundsicherung vom Bund ein wichtiges Vorhaben sein wird. „Und das werden wir als CDU unterstützen“, sagt Sozialpolitiker Marco Schmitz, dessen Partei im Bundestag in der Opposition sitzt. Das klischeebehaftete Bild, Familien in Grundsicherung würden zusätzliches Geld nur „versaufen und verrauchen“, statt es für ihre Kinder auszugeben, sei völlig falsch. „Mit der Grundsicherung kann Kindern die Chance gegeben werden, aus der SGB-II-Falle herauszukommen.“