Gelsenkirchen. Virologen reden vom Ende der Pandemie, Beschränkungen gibt es kaum noch. (Rück)Blick auf drei Jahre im Ausnahmezustand und wer heute noch leidet.
- 679 Covid-19-Patienten sind bis zum 31.12.2022 in Gelsenkirchen gestorben, 626 waren älter als 59 Jahre
- 200 Todesopfer gab es 2020, 295 im Jahr 2021 und 184 im dritten Jahr
- Schwere Folgen der Corona-Beschränkungen trafen Kinder, vor allem aus benachteiligten Familien
Es gibt noch immer täglich neue Infizierte, trotzdem ist Corona für die meisten gefühlt vorbei und auch die Virologen sprechen mindestens vom Übergang in eine Endemie. Zeit für eine Bilanz: Wie war das eigentlich in Gelsenkirchen? Wann ging es los, wann war der Höhepunkt, was hat das mit Krankenhäusern und was mit der Stadtgesellschaft gemacht? Ein Rückblick auf drei Jahre im Ausnahmezustand.
2020, als das ferne Wuhan sich im Zeitraffertempo Gelsenkirchen näherte
Januar: Als im chinesischen Wuhan die ersten Covid-19-Fälle bekannt werden, glauben Gelsenkirchener Notfallmediziner nicht an eine nennenswerte Ausbreitung in Deutschland. Drei Jahre und 674 mindestens im Zusammenhang mit Covid-19 verstorbene Gelsenkirchener später weiß man: Pandemien sind in einer globalisierten Welt kaum zu verhindern.
Februar 2020: Der erste Schüleraustausch des Max-Planck-Gymnasiums mit Italien wird wegen Corona storniert, zahlreiche Schulfahrten folgen. Am 5. März wird der erste Gelsenkirchener Verdachtsfall bekannt: Eine Altenpflegerin ist infiziert, sie und ihre Familie kommen in häusliche Quarantäne. Die Stadt hat einen Krisenstab eingerichtet, der fortan täglich tagt. Das Land untersagt jetzt Schulfahrten in Risikogebiete, Rückkehrer müssen in Quarantäne. In Italien bahnt sich eine Katastrophe an, Sperrzonen sollen die Ausbreitung der Tragödie verhindern. In der Sperrzone bemüht sich eine Pfarrerin aus Hassel um das Seelenheil der Einwohner, deren Familien in gespenstischem Tempo sterben.
Lockdowns im März und Drohungen vom OB
März: Schulen und Kitas schließen, Notbetreuung gibt es nur für Kinder, deren Eltern in der Grundversorgung arbeiten. Nur Supermärkte, Apotheken, Drogerie- und Baumärkte sind offen, das Musiktheater geht in eine lange Zwangspause. OB Frank Baranowski droht mit Ausgangssperren, wenn Bürger nicht freiwillig Sozialkontakte runterfahren und Abstand halten. Es folgt ein Ansammlungsverbot für mehr als zwei Personen. Vor Supermärkten bilden sich lange Schlangen, Klopapier und Mehl werden knapp, weil Kunden hamstern. Die Kliniken stocken die Intensivbetten auf. Strafgelder in Höhe von 18.000 Euro verhängt der KOD im März wegen Verstößen gegen Corona-Regeln. Am 29. März stirbt der erste Gelsenkirchener an Corona: ein 55-Jähriger ohne Vorerkrankungen. Bis Ende März gibt es 117 Infektionen. Auf den Balkonen klatschen Bürger für Pflegekräfte.
April: am 22. öffnen die Schulen für die Prüflinge, weitere Jahrgänge folgen. Es gibt Laufpläne für Schüler. Die Kitas bleiben zu, Krankenhäuser und Seniorenheime verbieten Besuche. Es ist die Zeit der Balkonkonzerte und Besuchsfenster. Der Leiter der Kinderklinik am Bergmannsheil mahnt: Kinder sind keine Pandemietreiber, er plädiert für die Öffnung von Kitas und Schulen, um schwere gesundheitliche Folgen für Kinder durch die Schließung zu verhindern – er sollte recht behalten.
Sommer 2020: Reiserückkehrer treiben die Infektionskurse hoch
Mai bis September: Nach der Beruhigung im Sommer steigen die Infektionszahlen dank Reiserückkehrern. Trotzdem soll die Maskenpflicht fallen laut Schulministerium. Viele Lehrer und Eltern sind skeptisch.
Oktober bis Dezember: Im Herbst steigt die Infektionskurve, vor allem nach den großen Feiern. Gelsenkirchen wird Risikogebiet mit starken Beschränkungen wie Sperrstunde, Beisetzungen im allerkleinsten Kreis, Hochzeiten ohne Gäste. Weihnachtsmarkt und Veranstaltungen werden abgesagt. Am 22. Dezember bahnt sich im Awo-Seniorenzentrum Schalke eine Tragödie an: 33 Bewohner und 33 Mitarbeiter sind infiziert. Zum Jahresende sind in Gelsenkirchener Seniorenheimen 227 Bewohner erkrankt. Zum Fest starten hier die ersten Impfungen. Impfstoff kommt spät und ist knapp.
Ende 2020 waren in Gelsenkirchen bereits 7500 Bürgerinnen und Bürger infiziert, fast sind 200 daran gestorben, davon 120 im Dezember.
2021, Corona-Jahr Nummer zwei mit 295 Toten
Januar/ Februar: Die Kurve steigt weiter steil. Am Monatsende sind 9365 Infizierte und 328 Todesfälle registriert. Die ersten Anmeldungen für die altersgestaffelten Impftermine im Impfzentrum verlaufen chaotisch, das System der Kassen ist total überfordert. Im Februar treten in Gelsenkirchen die ersten Pims-Fälle auf; schwere Erkrankungen bei Kindern im Nachgang einer Corona-Erkrankung. Auch Long Covid wird ein Thema. Die Restaurants bleiben zu.
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März/April: Die ersten frei käuflichen Schnelltests bei Discountern sind binnen Minuten ausverkauft, auch in Schulen sind Lieferung und Auswertung problematisch. Negativ-Wirkungen von Lockdowns für Kinder werden ein Thema. Ab April kommt auch Impfstoff bei Ärzten an, aber nur stockend. Den Frust darüber laden viele in den Praxen ab, es herrscht Chaos. Unter den Opfern: Der Ärztesprecher Dr. Arnold Greitemeier. Der engagierte und beliebte 71-Jährige hatte bis wenige Tage vor seinem Tod Patienten mit Impfungen versorgt, die eigene Infektion nicht bemerkt. Seine Erschöpfung hatte er auf die Arbeitsbelastung geschoben.
Bis Juni steigt die Infektionszahl auf 15.000, die der Todesfälle auf 400. Der Sommer ist entspannter trotz steigender Infektionen. Dank Impfung gibt es wenige tödliche Verläufe. Ende Oktober 2021 sind 19.000 Infizierte registriert, 425 Verstorbene. Ein Impfbus ist im Stadtgebiet unterwegs, um Unentschlossene zu versorgen. Die Folgen der Lockdowns werden zum Problem: Lernlücken bei Kindern, deren Eltern nicht helfen konnten, unerkannte häusliche Gewalt, verlerntes Sozialverhalten sorgen nicht nur Pädagogen und Eltern.
November/ Dezember: Ein Bueraner Urologe impft in der Kneipe, um die Impfquote zu steigern, Arztpraxen bieten Adventsimpfungen am Wochenende an, die Hausärztin Dr. Isabel Gewaltig bekommt für ihr sensationelles Impf-Engagement – bis zu 300 Spritzen je Woche! – die Impfbanane vom Spraykünstler Baumgärtel an der Praxiswand verewigt. Der nimmt dann gleich auch selbst den begehrten Piks mit. Ende 2021 sind 24.500 Infektionen in Gelsenkirchen registriert, 495 Bürgerinnen und Bürger sind gestorben.
2022, das Finale (hoffentlich) mit 184 verstorbenen Covid-19-Patienten
Januar bis Mai: Mit der hochansteckenden neuen Variante explodieren die Infektionszahlen in Gelsenkirchen auf 68.500 bis Anfang Mai. Die Todesfälle aber haben sich lediglich um 70 erhöht, meist trifft es Hochbetagte. Seit August (597) kamen bis zum Jahresende 80 Todesfälle dazu, Ende Dezember waren es 679, davon 184 in 2022. Und noch immer liegen Covid-19-Patienten beatmet auf den Intensivstationen. Auch tödliche Verläufe sind also – zumindest bei Menschen 60 plus – noch nicht ausgeschlossen.
Unterm Strich haben in Gelsenkirchen (bei steigender Dunkelziffer!) Infektionen vor allem Menschen zwischen 35 und 59 Jahren (37.424) sowie 15 und 34 Jahren (31.955) getroffen, gefolgt von 60 bis 79-Jährigen (13.221). In den drei Pandemie-Jahren sind die meisten Verstorbenen – 397 – über 80 Jahre alt gewesen, 232 traf es zwischen 60 und 79 Jahren. Nicht überlebt haben ihre Covid-19-Erkrankung zudem 46 Bürgerinnen und Bürger zwischen 35 und 54 Jahren, unter 15 Jahren waren es vier Menschen.