Gelsenkirchen. Scharf kritisiert wurde Gelsenkirchen für die Abschiebung eines Familienvaters aus Nigeria. Wir haben mit ihm gesprochen und die Gründe erfahren.

Die Abschiebung eines 38-jährigen Nigerianers durch die Stadt Gelsenkirchen hat für großen Wirbel gesorgt. Als „perfide“ und „besonders krassen Fall von Familientrennung“ wurde sie von dem Kölner „Komitee für Grundrechte und Demokratie“ kritisiert. Die Stadt erklärte, sie habe sich lediglich an Recht und Gesetz gehalten, über den Einzelfall könne man sich mit Hinweis auf den Datenschutz nicht äußern.

Unbeantwortet blieb damit weiter: Warum wurde ausgerechnet jemand abgeschoben, der bereits sieben Jahre in Deutschland gelebt hat, hier in Vollzeit beschäftigt war und für vier Kinder gesorgt hat? Die WAZ hat mit dem Betroffenen und seiner Anwältin gesprochen sowie Zugriff auf die relevanten Gerichtsurteile erhalten. Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Umstrittene Abschiebung aus Gelsenkirchen: Um wen geht es genau?

Der 38-Jährige lebte mit seiner ebenfalls nigerianischen Lebensgefährtin und vier Kindern im Alter von 2 bis 7 als Patchwork-Familie in Gelsenkirchen. Die siebenjährige Tochter ist nicht sein leibliches Kind. Nach WAZ-Informationen handelt es sich bei dem Vater um einen älteren deutschen Mann, der in einem Pflegeheim in Süddeutschland lebt. Das älteste Kind hat deshalb die deutsche Staatsangehörigkeit. Die Verbindungen zum Süden kommen nicht von Ungefähr: Das nigerianische Paar hat bis vor 2021 im baden-württembergischen Ludwigsburg gelebt.

Sie wollen mehr aus Gelsenkirchen erfahren? Lesen Sie hier mehr Artikel und Reportagen oder abonnieren Sie die WAZ Gelsenkirchen auf Facebook! +++

Zu dem Umzug kam es, weil ihre Unterkunft in Baden-Württemberg „sehr schmutzig und voller Ungeziefer“ gewesen sei. „Irgendwann hat es die Familie nicht mehr ausgehalten und ist nach Gelsenkirchen gezogen, weil sie dort Freunde hatten, die eine Wohnung vermitteln konnten“, erläutert Rechtsanwältin Sarah Schwegler. Ihr Mandant sei bereits in Baden-Württemberg berufstätig gewesen und habe dann in Gelsenkirchen eine Stelle in der Metallverarbeitung gefunden.

Am 3. August 2022 wurde er gegen 6 Uhr morgens in Anwesenheit seiner Kinder in Gewahrsam genommen. Eine Woche verbrachte er in Abschiebehaft in Büren, bis er nach Nigeria geflogen wurde.

Warum wurde der Mann aus Nigeria abgeschoben?

Die Stadt Gelsenkirchen stützt sich in ihrer Ausreiseanordnung auf Urteile des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen sowie des Oberverwaltungsgerichts Münster. Alle drei Schreiben liegen der Redaktion vor. Festgestellt wird darin zunächst, dass der Asylantrag des 38-Jährigen abgelehnt wurde und er illegal eingereist ist, also kein Visumverfahren durchlaufen hat.

Lesen Sie mehr Nachrichten und Hintergründe aus GELSENKIRCHEN:

Abgesehen werden kann trotz der illegalen Einwanderung von einer verpflichtenden Ausreise, wenn diese einen Eingriff ins Familienleben bedeuten würde. Ein entsprechender Eingriff kann von der Stadt und den Gerichten in diesem Fall jedoch nicht erkannt werden. Das Argument: Es könne dem Mann sowie der gesamten Familien, auch dem Kind mit dem deutschen Vater, zugemutet werden, „die familiäre Lebensgemeinschaft in Nigeria zu leben“, um dort das Visumverfahren des Vaters nachzuholen. Unzumutbar wäre dies dann hingegen, wenn die Beziehung zwischen der siebenjährigen Tochter und ihrem anerkannten Vater eng genug wäre. Die Gerichte halten die Beziehung zwischen den beiden jedoch für „nicht ausreichend“.

Zudem zweifeln Behörden und Gerichte am Integrationswillen des Nigerianers. Hier wurde unter anderem beanstandet, dass mehrere Nachweise nicht rechtzeitig eingegangen seien, etwa über die Sicherstellung des Lebensunterhaltes oder die Deutschkenntnisse.

Umstrittene Abschiebung eines Familienvaters: Wie argumentiert die Anwältin?

Sarah Schwegler behauptet, entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts wurde durch die Abschiebung ein rechtswidriger Zustand geschaffen. Den Kindern, die allesamt noch nie in Nigeria waren, sei nicht zuzumuten, dort zu leben und ihren Vater dabei zu begleiten, sein ohnehin mit eingeschränkten Erfolgsaussichten versehenes Visumverfahren nachzuholen.

Alltag in Nigeria: Die Abschiebung eines Familienvaters in das westafrikanische Land hat für viel Kritik gesorgt.
Alltag in Nigeria: Die Abschiebung eines Familienvaters in das westafrikanische Land hat für viel Kritik gesorgt. © dpa | Chinedu Asadu

Insbesondere die älteste Tochter, die bereits die zweite Klasse besucht, dürfe nicht mehr aus dem deutschen Schulsystem „herausgerissen“ werden. Auch argumentiert Schwegler, zwischen der Siebenjährigen und ihrem deutschen Vater existiere wohl eine schutzwürdige Beziehung, die durch regelmäßige Besuche aufrechterhalten werde. Auch die Kindesmutter habe versichert, dass er eine wichtige Rolle im Leben seiner Tochter spielt. Beide wollten keine Fernbeziehung führen, sondern seien an einem persönlichen und körperlichen Kontakt interessiert. Zweifel an der Beziehung oder gar der Vaterschaft seien unbegründet.

Dargelegt ist dies in einer Beschwerde vom November 2022 gegen die Gerichtsentscheidung, in der Schwegler beantragt, die Abschiebung ihres Mandanten rückgängig zu machen. Schwegler, die erst seit kurzer Zeit Anwalt des Abgeschobenen ist, habe indes keine Kenntnis darüber, warum einige Dokumente die Behörden offenbar nicht rechtzeitig erreicht haben. Der WAZ liegt unter anderem ein Sprach-Zertifikat vor, das zeigt, dass der Nigerianer 2018 einen A2-Deutschkurs mit „sehr gut“ abschloss.

Schwegler verweist zudem auf eine „Stellungnahme zur Frage der Integration“, die sie von einer Sozialarbeiterin erhalten hat. Diese begleitete die Familie, unter anderem aufgrund depressiver Tendenzen bei der Mutter nach Geburt der Zwillinge, eine längere Zeit. Den nun Abgeschobenen bezeichnet die Familienhelferin als „tragende Säule der Familie“, er habe sich um alle Belange der Familie gekümmert.

Wie geht es dem abgeschobenen Nigerianer jetzt?

Wir erreichen den 38-Jährigen telefonisch in der nigerianischen 2,6-Millionen-Stadt Benin-City. Immer wieder wiederholt er, was für ein „Schock“ die Abschiebung für ihn und seine Familie gewesen sei. Tagelang habe er nicht essen können und weinen müssen. „Ich habe meine Steuern in Deutschland gezahlt, ich habe Sprachkurse gemacht und mich integriert“, erzählt er. Und dennoch habe man ihn so „unmenschlich“ behandelt. „Einfach abgesetzt“ worden sei er am Flughafen, ohne Geld oder Beistand.

Jetzt, in Nigeria, sei er arbeitslos, müsse sich Geld von Familien und Freunden leihen. Sein ursprünglicher Grund, sein Heimatland zu verlassen, sei ihm direkt am Airport wieder krass vergegenwärtigt worden, als man ihm sein Smartphone gestohlen habe. „Hier brechen Leute in dein Haus ein und stehlen deine Sachen“, sagt er. „Ich wollte dort leben, wo es sicher ist.“

Was sagt die Stadt Gelsenkirchen zu der Abschiebung?

Ein schöner Vorgang sei eine Abschiebung für betroffene Familien selbstverständlich nie, sagt Simon Nowack, Ordnungsdezernent in Gelsenkirchen, zu dem Fall. „Aber letztendlich ist sie unumgänglich, um Regeln zu Ausreise und Aufenthalt durchzusetzen.“ Schließlich habe der Betroffene mit der Ausreiseanordnung auch vier Wochen Zeit gehabt, das Land freiwillig zu verlassen. Die Abschiebung sei dann die letzte Konsequenz.

Stadtrat Simon Nowack, in dessen Verantwortungsbereich das Ausländeramt fällt, sagt zu der umstrittenen Abschiebung: „So etwas ist natürlich nie schön. Aber letztendlich ist so eine Abschiebung unumgänglich, um Regeln zu Ausreise und Aufenthalt durchzusetzen.“
Stadtrat Simon Nowack, in dessen Verantwortungsbereich das Ausländeramt fällt, sagt zu der umstrittenen Abschiebung: „So etwas ist natürlich nie schön. Aber letztendlich ist so eine Abschiebung unumgänglich, um Regeln zu Ausreise und Aufenthalt durchzusetzen.“ © Stadt Gelsenkirchen

Diskussion ums Chancen-Aufenthaltsrecht: Was geschieht nun politisch?

Eine politische Dimension hat der Fall auch aufgrund des geplanten „Chancen-Aufenthaltsrechts“ der Bundesregierung. Das Gesetz soll gut integrierten Ausländern ein Bleiberecht sichern. Zwar ist das Gesetz noch nicht verabschiedet, allerdings können Entscheidungen zu Fällen, die von dem Aufenthaltsrecht profitieren könnten, auf die lange Bank geschoben werden. Das hat die NRW-Landesregierung mit einem entsprechenden Erlass im Juni 2022 entschieden.

Die Grünen und die Wählergruppe AUF sehen gerade in dem 38-jährigen Nigerianer eine Person, bei der der Erlass hätte Anwendung finden müssen. Ein Dringlichkeitsantrag der Grünen zu der Frage, wie der Erlass in Gelsenkirchen umgesetzt wird, wurde unter anderem von der Großen Koalition aus SPD und CDU im vergangenen Hauptausschuss abgelehnt. Die Grünen wollen nun weiter nach Wegen suchen, das Visumverfahren des Nigerianers zu unterstützen und haben hierzu bereits Kontakt mit Integrationsministerin Josefine Paul (ebenfalls Grüne) aufgenommen.

Stadtsprecher Martin Schulmann erklärte derweil auf WAZ-Nachfrage, die Stadt habe den Erlass der Landesregierung bereits in „zahlreichen Fällen“ angewandt. Genaue Zahlen gebe es jedoch nicht.