Gelsenkirchen. Strategien gegen einen Gas-Lieferstopp planen energieintensive Gelsenkirchener Firmen. Schnelle Lösungen wird es nicht geben, sagt der Zinq-Chef.

  • Neben den steigenden Gas-Preisen beschäftigt 40 Gelsenkirchener Unternehmen die Versorgungssicherheit.
  • Die Solidarität untereinander sei derzeit groß, stellt Unternehmer Lars Baunmgürtel fest. Ob sie hält, ist offen.
  • Betriebe wollen auf jeden Fall eine „Abschaltkaskade“ vermeiden und setzen auf Eigeninitiative.
  • Ob ihre abgesprochenen Vorkehrungen ausreichen könnten, soll zum Herbst geprüft werden

Gasmangellage, Abschaltkaskade – die zwei Begriffe dürften vor wenigen Monaten kaum zum weit verbreiteten sprachlichen Repertoire der Politik oder der deutschen Wirtschaft gehört haben. Das hat sich gründlich geändert. Wie auch – im Privaten und in Unternehmen – das Gefühl der Versorgungssicherheit. „Mittlerweile hat das Thema höchste Priorität. Vor fünf Jahren stand die Energie längst nicht so im Fokus“, sagt Lars Baumgürtel. Der Gelsenkirchener Unternehmer, geschäftsführender Gesellschafter der Zinq-Gruppe, spricht von einem „Schlüsselmoment“ für die lokale Wirtschaft.

Unternehmer sieht Schlüsselmoment für die Gelsenkirchener Wirtschaft

Die Zinq-Gruppe betreibt allein in Deutschland 20 Stückverzinkereien mit zusammen rund 1000 Beschäftigten. Im Gelsenkirchener Stadthafen betreibt das Unternehmen eine Großanlage: In über 17 Meter langen Tauchbecken werden bei Voigt & Schweitzer – bei über 450 Grad Betriebstemperatur – unter anderem Konstruktionsteile für Stahlbauten oder für Lkw-Trailer verzinkt. „Pro Jahr benötigen wir an unseren Produktionsstandorten mehr als 100 Millionen Kilowattstunden Erdgas“, so Baumgürtel. Ein Wert, der die Abhängigkeit vom Energieträger überdeutlich macht. Und die Probleme aufzeigt, vor denen energieintensive Unternehmen in Gelsenkirchen stehen.

In der Gelsenkirchener Stückverzinkerei werden in den über 17 Meter langen Becken bei einer Temperatur von 450 Grad unter anderem Unterbau-Teile für Lkw-Trailer verzinkt. Die Becken werden rund um die Uhr auf Temperatur gehalten, Zinq zählt zu den energieintensiven Betrieben.
In der Gelsenkirchener Stückverzinkerei werden in den über 17 Meter langen Becken bei einer Temperatur von 450 Grad unter anderem Unterbau-Teile für Lkw-Trailer verzinkt. Die Becken werden rund um die Uhr auf Temperatur gehalten, Zinq zählt zu den energieintensiven Betrieben. © FUNKE Foto Services | Lutz von Staegmann

Wie bereiten wir uns auf die Situation vor, die ab Januar möglich erscheint? Was passiert, wenn wir keinen Gasfluss mehr hätten? Was sind dann unsere Optionen? Fragen wie diese stellt sich nicht nur Baumgürtel für sein Unternehmen und in seinen Funktionen als Vizepräsident der IHK Nord-Westfalen und Sprecher der gewerblichen Wirtschaft in Gelsenkirchen. Sie gelten (mindestens) auch für weitere 40 energieintensive Betriebe aus Gelsenkirchen, die die Not sozusagen zusammengeführt hat – nicht nur im gemeinsamen Impuls, noch effizienter mit Energie umzugehen und die Kosten in den Griff zu bekommen.

Gelsenkirchener Wirtschaftssprecher: „Die Kosten sind da. Sie müssen am Ende des Tages umgelegt werden“

Virulent wurde das Thema nicht erst mit Russlands Krieg gegen die Ukraine und den bekannten Embargofolgen. Schon 2021, so Baumgürtel, war die Preissteigerung bei Energie und Rohstoffen in allen IHK-Gremien und der Wirtschaft insgesamt ein Thema. „Es wird je nach Branche unterschiedlich versucht, die höheren Energiepreise im Markt weiterzugeben“, stellt Baumgürtel fest. „In unserem Bereich ist das möglich. Insgesamt registriere ich innerhalb der Lieferketten viel Verständnis füreinander, auch weil es keine wirklichen Alternativen gibt. Die Kosten sind da. Sie müssen am Ende des Tages umgelegt werden.“

Für den 55-Jährigen steht fest: „Wir brauchen einen Mix. Wir brauchen viele Energieträgerarten. Neben der Frage nach den zukünftigen Energiepreisen geht es jetzt vor allem um die Versorgungssicherheit.“

Freiwillige Beiträge durch befristete Senkung der Produktion

Die Kernfrage ist: Was passiert, wenn kein Gas mehr kommt? Die industriellen Großverbraucher sind im Dialog mit den Netzbetreibern, der Kommune und der IHK, um lokal Lösungen zu finden. Dafür wurde zunächst überlegt: Was ist die Lücke? Wie können wir sie schließen? „Um eine Abschaltungskaskade zu verhindern, wollen wir lieber das Heft des Handelns selbst in die Hand nehmen“, macht Baumgürtel deutlich. Ansatzpunkte definiert er auf drei Feldern: 1. Einsparungen. 2. Substitution, also den Einsatz alternativer Energieträger zu Erdgas. 3. Freiwillige Beiträge durch befristete Senkung der Produktion und damit des Gasverbrauchs.

„Wartungen und Reparaturen oder Betriebsferien könnten zum Beispiel auf den Januar verlegt werden. Das würde den Mengen-Druck im Fall eines akuten Gasmangels im kritischen Zeitraum verringern. Das wäre ein freiwilliger Beitrag der Industrie“, sagt Baumgürtel. „Einige Betriebe denken auch über die kurzfristige Substitution von Erdgas nach. Substitution klingt einfach, ist aber durchaus komplex.“ Die Umstellung auf LNG, auf verflüssigtes Erdgas als alternative Bezugsquelle für Erdgas, würde sein Unternehmen allein „etwa eine halbe Million Euro pro Standort kosten“.

Gas-Knappheit und Alternativen: Eine schnelle technische Lösung ist nicht in Sicht

Fraglich sei dabei, ob überhaupt die benötigten Anlagen auf dem Markt zu bekommen wären – und dazu die Fachkräfte, um sie zu installieren. Offen sei auch die Genehmigungsfrage. Kurzum: „Eine schnelle technische Lösung für die Substitution von Erdgas“ sei nicht in Sicht. „Das alles ist schwierig und nicht innerhalb von einigen Monaten hinzubekommen.“ Letztlich müsse die Politik zeitnah beantworten, wie kompensiert werde, müsste klar sein, wie Unternehmen im Gegenzug zu Substitution und freiwilliger Reduktion Unterstützung bekämen.

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Die Lasten gerecht zu verteilen, sei entscheidend, damit es in einem „Milliardengemetzel“ nicht nur Verlierer gäbe. „Wir haben ein ganzes Land, das sich überlegen muss, wie es mit niedrigeren Gasmengen umgeht“. Um Lösungen zu finden, sei wichtig, mit den Betroffenen in den Dialog zu gehen, Wirtschaft und Politik vor Ort einzubinden. Zumindest Gelsenkirchen sei da auf einem guten Weg zu einer „regionalen Vorsorge-Vereinbarung“, um letztlich zu verhindern, dass Bundesnetzagentur und Netzbetreiber am Tag X der Industrie in Gelsenkirchen den Gashahn zudrehen.

Lars Baumgürtel: Keine Garantie, dass es wirklich funktioniert

„Wenn sich die Unternehmen selbst kümmern“, nehme das letztlich auch Druck von den Entscheidern, auch bei der Frage: „Wen schalte ich ab?“, glaubt Baumgürtel. Nach der Sommerpause im August solle geprüft werden, ob die Vorkehrungen ausreichen, kündigt der Unternehmer an. Und letztlich natürlich „ohne die Garantie, dass es wirklich funktioniert.“ Baumgürtel hofft zumindest, „dass alle betroffenen Unternehmen sehen, dass wir es in der Hand haben, mit den Netzbetreibern diese Situation so gut wie möglich zu stemmen.“

Über 20 Gelsenkirchener Unternehmen, darunter BP, Zinq, Trimet und Müller’s Mühle, haben sich zur Klimainitiative Stadthafen zusammengeschlossen. Ihr langfristiges Ziel: Die klimaneutrale Produktion und der Einsatz von grünem Wasserstoff.
Über 20 Gelsenkirchener Unternehmen, darunter BP, Zinq, Trimet und Müller’s Mühle, haben sich zur Klimainitiative Stadthafen zusammengeschlossen. Ihr langfristiges Ziel: Die klimaneutrale Produktion und der Einsatz von grünem Wasserstoff. © www.blossey.eu | Hans Blossey

Bei der industriellen Prozesswärme im Mittelstand sei die erste Transformation schon vor Jahrzehnten erfolgt. „Wir waren auf Kohle, dann auf Öl, nun bei Erdgas, auch weil das als wirtschaftliche und umweltfreundliche Lösung erschien“, so Baumgürtel. Der nächste Schritt ist die Umstellung auf kohlenstoff-freie Energieträger wie grüner Wasserstoff. Doch einfache Lösungen, macht er deutlich, gibt es bei dem Thema Dekarbonisierung nicht. Vielmehr sind Zwischenschritte wie die Umstellung auf das wasserstoffhaltige Energiegas notwendig. Das sei ein erster Schritt, auch mit Blick auf die angestrebte Versorgung mit Wasserstoff aus erneuerbarem Strom, an der Baumgürtel mit Zinq und an die 20 weiteren Betrieben wie Müller’s Mühle, Gelsen-Log, BP, Trimet, Ball oder Thyssen-Krupp Electrical Steel – Stichwort Klimaneutralität – in der Initiative Klimahafen Gelsenkirchen arbeitet.

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Das Bekenntnis, NRW zum klimaneutralen Industrieland umzubauen, steht. Doch dürfe man dabei nicht nur die Konzerne und Großbetriebe im Blick haben, sondern ebenso die vielzähligen kleinen und mittelgroßen Unternehmen aus dem energieintensiven Mittelstand, die am Umbau der Industrie in NRW mitbeteiligt werden müssen. „Im Dialog die Teilhabe aller Unternehmen zu gewährleisten: Das muss der Maßstab für die Politik sein“, fordert Baumgürtel als Sprecher der gewerblichen Wirtschaft. Nichtstun ist keine Alternative, auch weil aus Sicht des Unternehmers generell keine Entspannung zu erwarten ist: „Ich glaube nicht, dass die Energiepreise wieder drastisch sinken werden“, sagt Lars Baumgürtel. „Das gilt für Erdgas wie für Strom. Daher sollten wir uns darauf konzentrieren, bei der Umstellung auf eine klimaneutrale Industrie zumindest die Versorgung mit grüner Energie in Form von Wasserstoff und Strom langfristig zu sichern.“

>>> Nötige Verbesserung der Infrastruktur

Auch für IHK-Präsident Benedikt Hüffer gilt es, die Gasmangellage zu überwinden und die Energiewende generell voranzubringen. Das betonte er jüngst bei der Vollversammlung der IHK Nord-Westfalen in Münster.

Katharina Reiche, Vorstandsvorsitzende der Westenergie AG, hatte dort schnelle Verbesserungen bei der Infrastruktur angemahnt: Ohne, so Reiche, gelinge „keine stärkere Elektrifizierung der Wärme und Mobilität und auch kein Hochlauf bei grünem Wasserstoff“.

Das Stromnetz alleine, warnte die Energie-Expertin, schaffe die Transformation nicht, zumal rund 70 Prozent der mittelständischen Industriekunden der Westenergie AG in Westdeutschland ihre Prozesse aus technischen Gründen nicht elektrifizieren könnten.