Gelsenkirchen. Kräfte im Gelsenkirchener Integrationsrat fordern mehr Angebote für Muslime in Krankenhäusern. Dahinter stecken tieftraurige Anlässe.
Das Leiden ihres todkranken Vaters war der Anlass für Derya Halici, sich politisch bei den Grünen zu engagieren. Vor zweieinhalb Jahren wurde ihr Vater, der vor über 60 Jahren als Gastarbeiter aus der Türkei nach Deutschland kam, im Bergmannsheil Buer behandelt. „Er war aufgrund seiner Erkrankung stark physisch und auch psychisch angeschlagen, litt nicht nur unter Schmerzen, er hatte auch Angstzustände und war verwirrt“, erinnert sich Halici. Kraft gegeben hätte es ihm damals aus Sicht seiner Tochter, einen ausgebildeten muslimischen Seelsorger an seiner Seite zu haben, der sich mit ihm auf seiner Muttersprache verständigen kann. Doch ein solches Angebot konnte man ihm nicht machen.
Unermüdlich versuchte sich Halici dafür einzusetzen, dass ihr Vater auf seinem letzten Weg trostspendend begleitet wird. Das dokumentiert ihr Schriftwechsel mit der Bezirksregierung, dem Bergmannsheil sowie dem NRW-Gesundheitsministerium und der Ärztekammer Westfalen. Doch stets wurde sie dabei nur auf den muslimischen Gebetsraum im Bergmannsheil als Angebot für ihren Vater aufmerksam gemacht. „Aber ein Todkranker kann nicht aufstehen und beten gehen“, erzählt Halici mit gebrochener Stimme.
Seelsorge für Muslime in Gelsenkirchen: Muss auch die Stadt aktiver werden?
Dass beim Seelsorge-Angebote für Muslime eine Lücke zu schließen ist, findet auch Ali-Riza Akyol, Gesicht der Wähler Initiative NRW (WIN). Sowohl beim tragischen Fall des zweijährigen Jungen, der im August 2021 in einer Mini-Kita in Schalke ums Leben kam, wie auch beim ebenso dramatischen Fall eines ebenfalls zweijährigen Kindes, das 2019 im Nichtschwimmerbecken des Sportparadieses ertrank, ist Akyol zufolge deutlich geworden, dass den betroffenen muslimischen Familien kein richtiges Seelsorge-Angebot unterbreitet werden konnte. Dies habe er von der Verwaltung beim Umgang mit den beiden Tragödien erfahren.
Aber auch aus seinem persönlichen Bekanntenkreis berichtet der Politiker von Situationen, in denen muslimische Patienten in Gelsenkirchen gut einen Seelsorger gebraucht hätten. „So ein Angebot braucht es, der Bedarf ist absolut da.“
Auf die Frage, wie die Stadt Seelsorgeleistungen für Muslime organisiert, erhielt Akyol jedoch bereits im März 2022 eine aus seiner Sicht ernüchternde Antwort. „Es ist nicht die Aufgabe der Stadtverwaltung, die Seelsorgeleistung für Muslime zu organisieren, sondern es ist die Aufgabe der muslimischen Vereine, gemeinsame Angebote für die Seelsorge an die Gesundheitseinrichtungen zu richten“, heißt es darin. Als „desinteressiert“ wertete Akyol die Antwort der Stadt.
Angebote für Muslime in Kliniken: Was Essen anders macht als Gelsenkirchen
Denn dass eine Stadt selbst aktiv darauf einwirken kann, dass ein solches Angebot entsteht, bekam Akyol aus Essen mit. Dort wurde in Kooperation mit der Stadt und dem Kommunalen Integrationszentrum die Möglichkeit einer muslimischen Seelsorge entwickelt. Also fragte Akyol jüngst nach, mit welchem Aufwand es verbunden wäre, es Essen gleichzutun. Aus der Nachbarstadt erfuhr die Gelsenkirchener Verwaltung dann: Essen hat für das Seelsorge-Projekt zirka 160.000 Euro bei einer Laufzeit von vier Jahren (2021 bis 2024) vorgesehen.
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Zwar gehört sicher auch zur Wahrheit, dass eine engagierte muslimische Gemeinde das Thema schneller voranbringen könnte, Derya Halici von den Grünen macht jedoch darauf aufmerksam, dass die Seelsorge keine Tätigkeit ist, auf die man mal eben in einer schnellen Schulung vorbereitet werden kann. „Für mich sind dabei leitfadengeschützt Qualitätsstandards sehr wichtig“, sagt die hauptberufliche psychologische Beraterin und macht darauf aufmerksam, dass die christliche Seelsorge sehr durchprofessionalisiert ist. „Daran sollte man auch bei der muslimischen Seelsorge ansetzen.“ Nur hätten die Moscheegemeinden auch nicht die Ressourcen, um ein Angebot in den entsprechenden Standards zu entwickeln. „Da braucht es Hilfestellung.“
Forderung nach mehr Gebetsräumen für Muslime in Gelsenkirchen
In einem gemeinsamen Antrag im Integrationsrat fordern Grüne und WIN deshalb nun, dass Lösungsansätze dafür gefunden werden, gute Seelsorgeangebote in den Gelsenkirchener Kliniken zu schaffen. Befassen mit dem Thema soll sich idealerweise der sogenannte „Interkulturelle und Interreligiöse Arbeitskreis“, der sich als Dialogforum jüdischer, christlicher, muslimischer und alevitischer Menschen in Gelsenkirchen versteht.
Um die Situation für muslimische Patienten insgesamt zu verbessern, fordern Grüne und WIN und Einzelmandatsträgerin Safa Mansour in einem weiteren Antrag, mehr Gebetsräume für Muslime in Kliniken zu schaffen, laut Akyol ein Wunsch der „mindestens seit zwei Jahrzehnten von den muslimischen Gemeinden vorgetragen wird". In beiden Anträgen wird mit dem Grundgesetz argumentiert, etwa mit der Religionsfreiheit und Artikel 141 („Soweit das Bedürfnis nach Gottesdienst und Seelsorge im Heer, in Krankenhäusern, Strafanstalten oder sonstigen öffentlichen Anstalten besteht, sind die Religionsgesellschaften zur Vornahme religiöser Handlungen zuzulassen“).
Diskutiert werden konnten die Anträge allerdings bislang nicht; der vergangene Integrationsrat (10. November) ist kurzfristig aufgrund eines Krankheitsfalls in der Sitzungsleitung ausgefallen. Verschoben wurde die Diskussion damit vorerst auf 2023. Warum der ausgefallene Integrationsrat nicht zu einem früheren Zeitpunkt wiederholt werden kann, verwundert Akyol jedoch. Er will nun prüfen lassen, ob der plötzliche Ausfall der Integrationsratsitzung rechtens war.