Gelsenkirchen. Christliche, jüdische und muslimische Gemeinden vereinen sich im Kampf gegen Corona und starten einen Impfaufruf. Warum zu diesem Zeitpunkt?
Vertreter der jüdischen, christlichen und muslimischen Gemeinden haben sich vereint, um gemeinsam weitere Menschen zur Corona-Impfung zu bewegen. Dazu hat der „Interkulturelle und interreligiöse Arbeitskreis Gelsenkirchen“ jetzt einen Impfaufruf gestartet. „Wer sich impfen lässt, trägt dazu bei, dass unsere Gemeinschaft erhalten bleibt, dass wir der Fürsorge für andere Rechnung tragen, dass wir bereit sind, an der Gesellschaft mitzuarbeiten“, bekräftigt Judith Neuwald-Tasbach, Vorsitzende der jüdischen Gemeinde.
Jüdische Gemeinde Gelsenkirchen: „Viele sind auf Fake News hereingefallen“
Was für alle, die ebenfalls viel Hoffnung in eine noch höhere Impfquote stecken, wie ein nobles Zeichen der Solidarität erscheinen mag, wirft zugleich die Frage auf: Warum erst jetzt? Warum über ein Jahr nach dem Start der deutschlandweiten Impfkampagne, wo viele Mittel – ob Appelle, Werbekampagnen oder der Druck durch 2G-Regelungen – bereits ausgeschöpft zu sein scheinen und deshalb nicht umsonst um eine allgemeine Impfpflicht diskutiert wird?
„Es war vorher bei uns kein großes Thema, weil wir gehofft hatten, dass die Menschen von alleine diesen Weg gehen werden“, sagt Kirsten Sowa, Pfarrerin in der Emmaus-Kirchengemeinde und Sprecherin des Arbeitskreises. In den Sitzungen des Arbeitskreises sei zuletzt jedoch verstärkt zur Sprache gekommen, wie viele Menschen aller religiösen Gemeinschaften „auf Fake News hereingefallen sind“, ergänzt Neuwald-Tasbach. Gerüchte um implantierte Chips, erlogene Erzählungen von Menschen, die nach der Impfung direkt tot umgefallen sein sollen. „Viele sind auch skeptisch, weil Impfstoffe vor Corona ja in einem viel längeren Zeitraum entwickelt wurden“, sagt Hüseyin Kar, Vorsitzender des DITIB-Vereins in der Zentralmoschee.
Warum der Impfaufruf auch den Einsatz gegen Intoleranz in Gelsenkirchen fördert
All diese Menschen – diejenigen, die auf Lügen reingefallen sind, aber noch empfänglich sind für Fakten – versucht der Arbeitskreis nun noch zu erreichen. Und setzt dabei bewusst auf eine möglichst antispalterische Rhetorik, auf die Betonung der Gemeinsamkeit (siehe Infobox).
Denn vor allem geht es den Gemeinden um eines: Sie merken immer mehr, wie sehr die nicht enden wollende Pandemie das Gemeindeleben strapaziert, wie sehr der für den Arbeitskreis so relevante Austausch unter den Religionen beeinträchtigt wird – und damit nicht zuletzt auch der Einsatz gegen wachsende Intoleranz, Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit geschwächt wird. „Toleranz erlebt man in der Begegnung“, sagt Kirsten Sowa. In Begegnungen, die eben aktuell ausbleiben.
Angezündete Regenbogenfahnen oder Schmierereien an Moscheen
Dabei gäbe es viel zu tun: Die antisemitische Demonstration vor der Neuen Synagoge im vergangenen Mai, beleidigende Schmierereien an Moscheen, die laut Hüseyin Kar immer wieder auch in Gelsenkirchen auftreten, aber selten von den Vereinen publik gemacht werden, „um keine Nachahmer zu motivieren“. Oder auch Regenbogenfahnen, die als Zeichen der Toleranz für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt von den Kirchen gerissen werden, gar angezündet werden, wie es laut Werner Göbelsmann vom Emmaus-Presbyterium zuletzt an der evangelischen Kirche in Rotthausen geschehen ist.
Gegen all solche Formen des Hasses, so ist man sich in der Arbeitsgemeinschaft einig, könne man wieder besser Präventionsarbeit leisten, wenn auch wieder mehr Gemeinschaft möglich wäre – und darum der Impfaufruf. Hüseyin Kar: „Wenn man sich richtig kennenlernt, dann entstehen auch solche Probleme nicht – da bin ich überzeugt.“
Gelsenkirchen: Mehr Gedenkstättenfahrten geplant
Der Arbeitskreis plant deshalb – sofern es Corona zulässt – mehrere Begegnungs- und Austauschprojekte im laufenden Jahr. Ein Schwerpunkt soll dabei eine Exkursion nach Duisburg sein, um das Gemeindeleben in der dortigen DITIB-Gemeinde und jüdischen Gemeinde besser kennenzulernen. Zudem soll im Rahmen des zuletzt ausgefallenen Friedenswegs im Herbst wieder gemeinschaftlich durch die Gelsenkirchener Innenstadt gepilgert werden. Auch weitere Fahrten zu KZ-Gedenkstätten mit Schülerinnen und Schülern sind geplant. Den Arbeitskreis freut dabei, dass in den letzten Haushaltsberatungen 50.000 Euro für die Durchführung solcher Fahrten in Gelsenkirchen von der Politik eingestellt wurden.
Auszug: Der Aufruf im Wortlaut
„Covid-19 ist und bleibt eine große Belastung für die Bevölkerung und das Gesundheitswesen. Deshalb unterstützen und befürworten wir die Impfung als ein einfaches, schnell wirksames und sicheres Mittel. So können wir uns selbst und unsere Mitmenschen vor schweren und langwierigen Krankheitsverläufen schützen und einen Weg aus der Krise finden“
„Mit der Impfung leisten Sie einen wichtigen Beitrag zum Schutz Ihrer Gesundheit und zum Schutz aller. Wir vertrauen auf Gott! Und Wir übernehmen Verantwortung füreinander! Deshalb sind Wir geimpft! Lassen auch Sie sich impfen! Nur gemeinsam können Wir Corona überwinden! Wir, das sind die Mitglieder des Interkulturellen und interreligiösen Arbeitskreises Gelsenkirchen: Jüdinnen und Juden, Christinnen und Christen, Musliminnen und Muslime!“