Gelsenkirchen. Gelsenkirchen legt seinen Klima-Plan vor. Ihn sorgsam abzuarbeiten reicht nicht. Auswirkungen der Klima-Politik muss man sofort erlebbar machen.

Das Klima wird nicht in der Kommune gerettet. Und zuerst wird die Verkehrswende wohl kaum in einer Auto-Stadt wie Gelsenkirchen gelingen. Insofern ist es stets mühselig, über wirkungsvolle Klima-Politik vor der Haustür zu reden. Denn die Möglichkeiten, die eine Stadt selbst hat, sind sehr begrenzt, die globale Herausforderung zu groß: Wenn man sich beispielsweise nur mal die Kohlekraftwerke vergegenwärtigt, die in China fortdauernd aus dem Boden sprießen, dann liest man Konzepte wie das neue Gelsenkirchener „Klimakonzept 2030/2050“ sowie den jetzt vorgelegten „Masterplan Mobilität“ freilich mit einem gewissen Ohnmachtsgefühl.

Gelsenkirchen ist gefangen in einem klimapolitischen Widerspruch

Um sich ernsthaft mit diesen wichtigen, nach jahrelanger Arbeit nun vorgelegten Konzepten auseinanderzusetzen, die den Klima-Fahrplan Gelsenkirchens für die Klimaneutralität bis 2045 bilden, muss man sich deshalb erst einmal auf etwas einigen. Nämlich darauf, dass gerade eine so sehr auf den Autoverkehr ausgerichtete, ehemalig hochindustrielle Stadt mit so begrenzten finanziellen Mitteln wie Gelsenkirchen dem Rest der Welt zeigen könnte, wie konsequente Klima-Politik gehen kann. Gelsenkirchen könnte, gerade aufgrund seiner schwierigen Bedingungen, einen Modellcharakter haben – sozusagen das arme Kind aus dem bildungsfernen Haushalt, das den Uni-Abschluss schafft. Im Studiengang Nachhaltigkeitsmanagement.

„Die Stadt muss sich bei der Klima-Politik mehr als Reallabor begreifen“, mein WAZ-Redakteur Gordon Wüllner-Adomako.
„Die Stadt muss sich bei der Klima-Politik mehr als Reallabor begreifen“, mein WAZ-Redakteur Gordon Wüllner-Adomako. © funkegrafik nrw | Anna Stais

Gefangen ist Gelsenkirchen gegenwärtig allerdings in dem klassischen klimapolitischen Widerspruch. Dass es um „nicht weniger als das Menschheitsthema schlechthin geht“, betonte Oberbürgermeisterin Karin Welge, als sie kürzlich einleitende Worte bei einer öffentlichen Präsentation der beiden angesprochenen Konzepte ins Mikrofon sprach – und ergänzte wenige Atemzüge später: „Ich werbe um einen Spagat zwischen Mut und Realität“, also um ein Augenmaß, das man angesichts der schlimmen Folgen der Klimakatastrophe eigentlich nicht mehr anlegen dürfte.

Klimapolitik in Gelsenkirchen? Entweder oder? Sowohl als auch!

Eingeladen zu jener Präsentation war auch Anja Bierwirth. Sie leitet den Forschungsbereich Stadtwandel beim Wuppertal-Institut für Klima, Umwelt, Energie. Und die Kernbotschaft ihres Vortrags lautete: Es gehe bei der Klimapolitik „nicht um ,entweder-oder‘, es gehe um ,sowohl-als-auch‘“. Heißt: Eigentlich müssten all die Punkte, die in Gelsenkirchens Klima- und Verkehrskonzepten stehen, parallel angegangen werden. Umgehend.

Täte man dies tatsächlich, dann würde sich Gelsenkirchen rapide zu einer Wasserstoff-Industriestadt mit blühenden Vorgärten, florierendem ÖPNV, schattig-einladenden Fußgängerzonen und sich autark versorgenden Haushalten entwickeln, in der sich die ohne Abgase fahrenden Autos an Carsharing-Stationen geteilt werden. Darauf zielen all die Ideen in den Maßnahmeplänen ab.

Aber bis konkret an so einer Stadt gearbeitet werden kann, müssen erst einmal noch Akten über Akten produziert werden: Vorgeschlagen wird im „Masterplan Mobilität“, dass eine „Parkraummanagementstrategie“ erarbeitet werden soll, dass ein „Straßenbahnbaukonzept“, dass ein „Maßnahmenprogramm Fußverkehr“ oder eines zur „Gestaltung des öffentlichen Raums von Plätzen“ entwickelt werden soll. Es gäbe noch viel mehr Beispiele solcher Art, die alle zeigen: Das Konzept will zu einem großen Teil, dass erst einmal mehr Konzepte erarbeitet werden.

Nun wäre es ein Leichtes, wieder auf die lahmen Mühlen der Verwaltung zu schimpfen. Dabei hat die ganze Konzeptschreiberei ihren Grund und führt im Idealfall am Ende zu dem besten, weil durchdachtesten Ergebnis mit der größten CO2-Einsparung. Aber elementar ist, dass die Stadt parallel zur Schreibtischarbeit auch schnell zum Handeln kommt.

Man muss in Gelsenkirchen erlebbar machen, was eine Straße mit wenig Autos bedeuten würde

Das heißt zum einen, dass die Stadt offen gegenüber Impulsen aus der Stadtbevölkerung sein sollte. Am Abend der Klimakonzept-Präsentation meldete sich ein Gelsenkirchener mit dem Hinweis, er kämpfe seit längerer Zeit für Fahrradhäuser zum Abstellen von E-Rädern in seiner Nachbarschaft – aber die Verwaltung stelle sich stets quer, statt das Projekt zu unterstützen. Das darf nicht sein.

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Das heißt aber auch, dass die Stadt sich selbst mehr als Reallabor begreifen muss. „Es bedeutet eine immense Qualität, wenn es weniger Autos auf den Straßen gibt – aber man muss das auch erlebbar machen“, appellierte Klima-Expertin Anja Bierwirth.

Was heißt das konkret? Nicht, dass gleich die ganze Kurt-Schumacher-Straße zeitweise zur autofreien Zone erklärt wird. Aber wohl, dass man den Mut hätte, an der einen oder anderen Stelle einen vorübergehenden „Pop-Up Radweg“ aufzumalen. Oder dass, wie jetzt in Buer beim ersten „Urbanus Herbst“, unter dem Motto „Autos runter, Menschen und Kultur rauf“ ausprobiert wird, wie es sich mit weniger Autos in Gelsenkirchen leben würde. Ein guter Anfang. Aber man müsste nicht nur in einer Sackgasse wie in Buer, sondern öffnender spürbar machen, wie sich eine Stadt wie Gelsenkirchen klimabewusst entwickeln könnte.

Was Klimaneutralität bedeutet, muss in der Stadt erlebbar gemacht werden

Genau so würde das von OB Welge erwähnte Paar aus „Mut und Realität“ auch zusammenkommen: Wenn man den Wunsch, quasi die Utopie eines CO2-freien und autoarmen Gelsenkirchens, für einen begrenzten Zeitraum zur Realität machen würde; wenn man also vorübergehend so tun würde, als wären all die ganzen detailverliebten Konzepte, die jetzt geschrieben wurden und noch geschrieben werden müssen, längst umgesetzt, erst dann kann man doch überhaupt beweisen, dass sich mutige Klima-und Verkehrspolitik lohnen könnte.

Ein Pop-up-Radweg in Köln: In Gelsenkirchen wurde der Vorschlag, solche vorübergehenden Radwege zu installieren, abgeschmettert.
Ein Pop-up-Radweg in Köln: In Gelsenkirchen wurde der Vorschlag, solche vorübergehenden Radwege zu installieren, abgeschmettert. © dpa | Daniel Reinhardt

Schließlich benötigt ambitionierte Klima-Politik auch breite Akzeptanz. Dass „das Menschheitsthema schlechthin“ in Gelsenkirchen mit Maß und Mitte angegangen wird, hat ja vor allem damit zu tun, dass mit viel Widerspruch zu rechnen wäre, wenn viele Parkplätze wegfielen. Aber gerade stadtplanerisch kann Klimaneutralität viel weniger Verzicht als vielmehr Gewinn von Lebensqualität bedeuten – nur muss das in der Praxis erst einmal bewiesen, eben erlebbar gemacht werden.

So wie der Bund es übrigens für ganz Deutschland für drei Monate erlebbar gemacht hat, sich mit einem (fast) kostenlosen ÖPNV durchs Land zu bewegen: Das Neun-Euro-Ticket wird von vielen vermisst. Als die Entlastungspaket-Maßnahme aus dem Hause der Ampel mit dem wohl breitesten gesellschaftlichen Zuspruch versprühte es ebenfalls den Geist der Reallabor-Politik. Weil man einfach mal gemacht hat – und so in der Ausgestaltung der Verkehrswende deutlich vorangekommen ist. Für die Gelsenkirchener Politik, die jetzt in die finale Beratung zu den Klima- und Mobilitätskonzept einsteigt, kann und sollte das eine gute Lehre sein.