Gelsenkirchen. Günter Scheidler hat endlich recht bekommen. Der im Gelsenkirchener Kinderheim und in einer LVR-Klinik Misshandelte soll nun Opferrente bekommen.

Günter Scheidler (64) hat sehr viel erleiden müssen in seinem Leben. In mehreren Kinderheimen – darunter das St. Josef in Gelsenkirchen – und in der Kinderpsychiatrie der Landesklinik Langenfeld des Landschaftsverbandes Rheinland wurde er übel misshandelt und gequält. Nun hat der Gelsenkirchener endlich Recht zugesprochen bekommen: 60 Jahre nachdem sein Leidensweg begann.

300 Euro im Monat für jahrelanges Martyrium

Das Sozialgericht Gelsenkirchen hat seiner Klage auf eine Opferrente wegen schwerer Langzeit-Gesundheitsschäden vom Landschaftsverband stattgegeben. 300 Euro soll er monatlich für sein Martyrium bekommen. Für körperlichen und seelischen Missbrauch, Gewalt, Demütigung auf unendlich scheinende Weise. Bis Anfang März allerdings kann der Landschaftsverband theoretisch noch Berufung gegen das Urteil einlegen. [Zum Thema: Aufklärung zu Missbrauch im Heim gestartet]

Weiterkämpfen, damit auch die anderen Missbrauchsopfer Gehör finden

Günter Scheidler ist nicht nur froh wegen der 300 Euro mehr, die er nun zu seiner eigenen, ebenfalls hart erarbeiteten Altersrente bekommen wird. „Ich freue mich vor allem, dass ich uns Missbrauchsopfern Gehör verschaffen konnte, die wir alle bis heute keine Lobby haben. Dafür habe ich gekämpft, für das Wir – und ich kämpfe weiter“, betont der Gelsenkirchener nach diesem Urteil.

Das tut er übrigens nicht nur vor Gericht, sondern auch im Gelsenkirchener Regenbogenhaus der Diakonie, einer Anlaufstelle für Menschen am Rand der Gesellschaft, das er lange Jahre geleitet hat und in dem er sich bis heute engagiert. Scheidler weiß aus eigener Erfahrung, wie sich das Leben am Rand anfühlt. Bis heute benötigt er Hilfe dabei, seine damals geborenen Dämonen im Griff zu behalten.

Schon als Kleinkind ins Heim abgeschoben

Sein eigener Leidensweg hatte viele Stationen. Der von der Mutter schon als Kleinkind ins Heim abgeschobene Junge wartete dort jahrelang vergeblich auf Besuch. Er zog sich zunehmend in sich zurück, war im Heim schnell als verhaltensauffällig und „dumm“ abgestempelt. Zur Schule durfte er erstmals als Neunjähriger – weil erst 1966 das aus der Nazizeit stammende Schulgesetz reformiert wurde, endlich auch für Kinder wie ihn mit angeblich verminderter Intelligenz Schulpflicht galt.

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„Wir waren die Lämmer, die man zum Schlachthof führte und die niemand hörte“

Scheidler genoss den Schulbesuch – obwohl er ohne jede Vorkenntnis als Neunjähriger in die dritte Klasse eingestuft wurde, viel nachzuholen hatte. Mittlerweile war er vom Kinderheim in die Kinderpsychiatrie der Landesklinik verlegt worden, wo er mit schwer psychisch kranken und ruhig gestellten Kindern mehr vegetierte als lebte.

„Wir waren die Lämmer, die man zum Schlachthof führte und die niemand hörte“, erinnert er sich an jene Jahre. Es herrschte ein strenges Regiment, Gewalt, Missbrauch. Warum er in die Psychiatrie kam, weiß er bis heute nicht. Er vermutet, dass er als nie besuchtes Kind ein perfektes Opfer abgab. Was er weiß und was ihm nun durch das Urteil auch in Teilen bestätigt wurde, sind die schweren gesundheitlichen Folgen, die er von diesem Aufenthalt davon getragen hat und mit denen er bis heute zu kämpfen hat.

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Im November 1966 hatte er in der Klinik – neben schweren sexuellen Übergriffen durch Pfleger – unter anderem eine folgenschwere Spritze in den Rücken bekommen – ohne Genehmigung des für ihn zuständigen Amtes, ohne Aufklärung. Die Folgen – rasende Schmerzen und Bewegungsunfähigkeit, die ihn monatelang in den Rollstuhl zwang – spürt er heute noch. Körperlich, aber vor allem auch seelisch.

Es waren Medikamenten-Experimente mit den Kindern in Zusammenarbeit mit der Pharmaindustrie, davon ist Scheidler überzeugt. Das Sozialgericht Gelsenkirchen jedenfalls sah als erwiesen an, dass bei Scheidler ein unangemessener und nicht genehmigter Eingriff vorgenommen wurde, der als „gefährlicher Angriff auf die körperliche und seelische Unversehrtheit“ Scheidlers zu werten sei.

Im Rahmen einer von der WAZ moderierten Podiumsdiskussion mit Experten unter dem Titel „Gewalt und Missbrauch in Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen: Nie wieder!
Im Rahmen einer von der WAZ moderierten Podiumsdiskussion mit Experten unter dem Titel „Gewalt und Missbrauch in Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen: Nie wieder!" schilderte Günter Scheidler (2.v.l.) seine Geschichte. St. Augustinus als späterer Träger des Heims und Propst Pottbäcker gelobten Aufklärung und Aufarbeitung der Schicksale. © Funke Foto Services GmbH | Olaf Ziegler

Geist der Nazi-Zeit dominierte noch vielfach in Psychiatrie

In den Psychiatrien jener Jahre herrschte in großen Teilen noch der Geist der NS-Zeit. So war der damalige Leiter der Rheinischen Landesklinik Langenberg und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Prof. Friedrich Panse, in der NS-Zeit aktiv an Gutachten mit tödlichen Folgen für psychisch Kranke beteiligt, den berüchtigten T-4-Gutachten. Er warb für Rassenhygiene als Prüfungsfach, Zwangssterilisierungen, experimentierte mit Elektroschocks, um „Kriegsneurotiker zu heilen und Simulanten zu enttarnen“. Panses NS-Vergangenheit ist belegt, sogar auf den Seiten seines späteren Arbeitgebers, des Landschaftsverbandes Rheinland (LVR). Dennoch gab das Landesverwaltungsgericht nach 1945 der Klage Panses auf Wiedereinstellung statt. Bald war er Lei­ter der Rhei­ni­schen Lan­des­kli­nik Langenberg, 1965 gar Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenheilkunde. 1966 soll Panse mit Medikamenten an Heimkindern experimentiert haben. Die Ehrenmitgliedschaft in der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie wurde ihm dennoch erst posthum 2011 entzogen. Auch Panses Klinik war eine Station auf Scheidlers Leidensweg.

Aufklärung über Social Media und die eigene Webseite

Scheidler hat das alles recherchiert, teilt sein Wissen über Social-Media-Kanäle, um anderen Opfern zu helfen. „Damals war ja auch das Pflegepersonal in den Psychiatrien noch geprägt von der Nazi-Ideologie. Wir waren unwertes Leben für die, das haben wir gespürt. In der Klinik haben wir gelernt, dass tote Kinder gute Kinder sind“, denkt Scheidler bitter zurück. Gegen so ein System hatte ein neunjähriges Heimkind wie Günter Scheidler keine Chance, gehört zu werden.

Von der Klinik ins Gelsenkirchener Heim: Vom Regen in die Traufe

Günter Scheidlers erste Erfahrungen in Gelsenkirchen waren alles andere als positiv. 1969 kam er ins Kinderheim St. Josef in der Altstadt. Die Schwester Oberin mit Ordensnamen Theresa stellte ihn damals den anderen vor mit den Worten „Der kommt aus dem Irrenhaus. Dem zeigen wir, wie wir mit solchen wie ihm hier umgehen.“ [Zum Thema: Betroffenenbeirat für Missbrauchsopfer im Bistum geplant]

Folter in der Badewanne und Missbrauch im Schwimmbad des Schwesternheims

Schwester Theresa sei „sadistisch und herrschsüchtig gewesen“, schreibt Scheidler in seinem Buch „Weißer Hase“ (Gratis-Download unter guenter-scheidler.de), in dem er seinen Leidensweg mit Hilfe des Autoren Robby von Haaken aufgeschrieben hat. Darin erzählt er von Schlägen, von Folter in der Badewanne, von Todesangst und von erbrochenem Essen, das erneut gegessen werden musste.

Matthias Hommel leitet heute das Kinderheim St. Josef. Das Haus ist noch das Gleiche, die Philosophie und das Leben der Bewohner allerdings hat mit dem, was Günter Scheidler einst hier erlebte, nichts mehr zu tun.
Matthias Hommel leitet heute das Kinderheim St. Josef. Das Haus ist noch das Gleiche, die Philosophie und das Leben der Bewohner allerdings hat mit dem, was Günter Scheidler einst hier erlebte, nichts mehr zu tun. © FUNKE Foto Services | Lutz von Staegmann

Priester und Nonnen leben bis heute unbehelligt – und verweigern jede Aussage

Er erzählt auch von sexuellem Missbrauch im Schwimmbad des Schwesternheims, den viele Mitbewohner durchmachen mussten. Er erzählt von den grenzenlosen Grausamkeiten und sexuellen Übergriffen von Theresa – bei ihm verbunden mit Drohungen, wieder in die Klinik zu kommen. Auch zwei Priester machten mit: Alle drei leben bis heute unbehelligt weiter und verweigern jeden Kontakt und jede Aussprache. Die von Scheidler im vergangenen Jahr erhobene Klage gegen Schwester Theresa wurde wegen Verjährung fallengelassen. Nun wartet er auf die Aufklärung der unabhängigen Kommission im Auftrag der Kirche.

„Wir Missbrauchsopfer haben bis heute keine Lobby“

Scheidler hofft, das noch selbst zu erleben und vor allem auch den anderen Opfern (Scheidler: „Das war jeder zweite in meiner Wohngruppe“) noch Gehör verschaffen zu können. „Wir haben bis heute keine Lobby, und dafür mache ich das alles: Für das Wir, damit uns endlich geglaubt wird.“ Scheidler spricht von geschätzt 100.000 Missbrauchsopfern, denen ähnliches widerfuhr, die aber nicht wie er die Kraft hatten, sich für Aufklärung und Entschädigung zu engagieren. Auch er hat drei Jahrzehnte gebraucht, bis er dazu im Stande war.

Ombudsmann als Anlaufstelle

Die Aufarbeitung der Misshandlungs- und Missbrauchsgeschichte im St. Josef Kinderheim haben die St. Augustinus Gelsenkirchen GmbH als Nachfolgeunternehmen des damaligen Trägers und auch Propst Pottbäcker unterstützt. Nach den Enthüllungen von Günter Scheidler mit seinem 2017 verfassten Buch „Weißer Hase“ luden die Akteure 2018 zu einer von der WAZ moderierten Podiumsdiskussion.

Im Nachgang wurde der Präsident des Verwaltungsgerichts Düsseldorf, Prof. Andreas Heusch als Ombudsmann für die Aufklärung der Geschehnisse und Anlaufstelle für Opfer berufen. Heusch hält in dieser Funktion laut St. Augustinus auch Kontakt zu ehemaligen Bewohnern und Opfern.

1972 konnte Scheidler das Kinderheim verlassen, lebte fortan im Jugenddorf Westerholt, wo er sich gut aufgehoben und angenommen fühlte. Er machte eine Lehre als Gebäudereiniger, um Geld zu verdienen. Arbeitete im Straßenbau, bei Mannesmann, überall, um nicht zum Sozialfall zu werden und sich selbst zu behaupten. 1990 holte er seinen Hauptschulabschluss nach, „um mir selbst zu beweisen, dass ich nicht dumm bin, sondern einfach keine Chance bekommen hatte zum Lernen.“ Sein Ziel war, als Sozialarbeiter arbeiten zu können. Er hat es geschafft, war ab 1994 im Dienst der Diakonie, engagiert sich auch als Rentner heute im Regenbogenhaus, um auch anderen beim Weg in ein besseres Leben zu helfen.

Für Scheidler geht der Kampf um Anerkennung für Leidensgenossen weiter

Vom Urteil des Sozialgerichts erhofft er sich eine Signalwirkung für andere Opfer, deren Leidensweg bis heute nicht anerkannt ist. Doch sein Kampf geht weiter, auch für die Opfer des Kinderheims St. Josef aus jenen Jahren. Auf Facebook, Twitter, Instagram, gegenüber der katholischen Kirche, vor Gericht wo nötig und möglich. Die Kontakte zu einstigen Leidensgenossen aus dem Heim, die seine Anklagen bestätigten, pflegt er bis heute.