Gelsenkirchen. Gelsenkirchen gehört zu zehn Städten in NRW mit dem höchsten Gefährdungspotenzial für Frauen, Opfer von häuslicher Gewalt zu werden.

Gelsenkirchen gehört zu zehn Städten in Nordrhein-Westfalen mit dem höchsten Gefährdungspotenzial für Frauen, Opfer von häuslicher Gewalt zu werden. Das geht aus dem aktuellen Gleichstellungsatlas der Landesregierung hervor.

Gelsenkirchen belegt in der Statistik in der Opferrubrik Partnerschaftsgewalt Platz sechs

Der Erhebung zufolge, die zuletzt auch Thema im Sozialausschuss war, belegt die Emscherstadt Platz sechs in dieser unrühmlichen Rangliste. Das Risiko, als Frau in Gelsenkirchen Opfer von partnerschaftlicher Gewalt zu werden, ist achtmal höher als bei einem Mann. Spitzenreiter ist Hagen, gefolgt von den Kreisen Herford, Kleve, Minden-Lübbecke, und Euskirchen. Hinter Gelsenkirchen aufgeführt ist Mönchengladbach, danach Mülheim an der Ruhr, Bielefeld und Bochum. Lesen Sie dazu auch: [Sexualverbrechen in Gelsenkirchen: Das sind die Zahlen]

Nach der zuletzt veröffentlichten Statistik der Gelsenkirchener Polizeibehörde – die neuen Zahlen werden in Kürze erwartet – sind im Jahr 2020 899 Personen Opfer von partnerschaftlicher oder häuslicher Gewalt geworden. Unter den Betroffenen waren auch 111 männliche Opfer. „Die meisten Betroffenen waren körperlicher Gewalt und Bedrohungen ausgesetzt“, berichtet Asmaa El Makhoukhi, stellvertretende Gleichstellungsbeauftragte und Koordinatorin für die Umsetzung der Istanbul-Konvention. Als besonders vulnerable Gruppen haben sich nach Darstellung der 34-Jährigen „Frauen mit Handicap und Frauen mit Zuwanderungsgeschichte“ herauskristallisiert. Lesen Sie dazu auch: [Gewalt an Frauen: Zahl der Taten in Partnerschaften steigt bundesweit]

Als ob hohe Arbeitslosigkeit, prekäre Lebensverhältnisse, Bildungsferne und die lang anhaltende Corona-Pandemie mit Lockdowns und zahlreichen Einschränkungen nicht schon potenziell Nährboden genug sind für Übergriffe, hat Gelsenkirchen neben hohen Fallzahlen auch noch mit einem anderen Problem zu kämpfen: dem Mangel an Schutzplätzen für Opfer häuslicher Gewalt.

In Gelsenkirchen fehlen Schutzplätze für Gewaltopfer – 90 betroffene Frauen abgewiesen

„Die Istanbul-Konvention hält ein Familienzimmer pro 10.000 Einwohner für angemessen“, erklärt Asmaa El Makhoukhi. Macht im Fall von Gelsenkirchen 26 Schutzplätze. Verfügbar seien aber nur 14 solcher Unterkünfte pro Tag. Es fehlen also täglich zwölf sichere Unterbringungsmöglichkeiten. Das führt zu dem unglücklichen Umstand, dass viele betroffene Gewaltopfer, die den Schritt gewagt haben, Hilfe zu suchen, vor verschlossenen Türen gestanden haben.

„2020 konnten insgesamt 90 Schutz suchende Frauen nicht im Frauenhaus oder anderen Unterkünften aufgenommen werden“, erklärt die stellvertretende Gleichstellungsbeauftragte. Zu den Hindernissen, die Frauen ausschließen, gehören: die fehlende Barrierefreiheit, die Anzahl der Kinder, für die auch Raum gebraucht worden wäre oder aber auch nicht unterzubringende Haustiere, und die fehlende Sicherung des Lebensunterhaltes.

Bei 50 Prozent der schweren Fälle von häuslicher Gewalt gab es vorher Warnsignale

Damit nicht genug. Asmaa El Makhoukhi berichtete dem Gremium auch von einer Analyse, der zufolge es in 50 Prozent aller bundesweit schweren Fälle bereits vorher schon Anzeichen von häuslicher Gewalt gegeben habe. Die Anzahl schwerer Fälle häuslicher Gewalt ließen sich früh erkannt demnach möglicherweise reduzieren.

Zeigten klare Kante vor dem Gelsenkirchener Hans-Sachs-Haus: Asmaa El Makhoukhi (v.l., Stadt), Wolfgang Heinberg (St. Augustinus GmbH), die Präsidentinnen der Soroptimistinnen-Clubs Maria Jost, Dr. Monika Eickmeier und Dr. Rosemarie Kötter, und Stadträtin Anne Heselhaus beim Aktionstag Orange Day.
Zeigten klare Kante vor dem Gelsenkirchener Hans-Sachs-Haus: Asmaa El Makhoukhi (v.l., Stadt), Wolfgang Heinberg (St. Augustinus GmbH), die Präsidentinnen der Soroptimistinnen-Clubs Maria Jost, Dr. Monika Eickmeier und Dr. Rosemarie Kötter, und Stadträtin Anne Heselhaus beim Aktionstag Orange Day. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

Die 34-Jährige nennt ein Beispiel: „Eine Frau und Mutter wird beim Ausländeramt vorstellig wegen ihres Aufenthaltsstatus, im Gespräch wird eine Trennung zum Thema, weil der Partner trinkt und das Leben aus dem Ruder läuft.“ Ohne entsprechende Informationsweitergaben kann es dann vorkommen, dass wichtige Stellen, wie z.B. die Polizei oder das Jugendamt von einer möglichen Kindeswohlgefährdung nichts erfahren und ihnen in der Risikoeinschätzung wichtige Puzzleteile fehlen. Selbst wenn Kinder nicht geschlagen werden, bedeutet das Wahrnehmen der Partnerschaftsgewalt der Eltern für sie großen Stress und ist schon dadurch eine Kindeswohlgefährdung.

Verletzungen der Opfer werden, was für die strafrechtliche Verfolgung wichtig wäre, zudem oft nicht ärztlich dokumentiert, weil Betroffene den Weg zum Arzt und erst recht zur Polizei scheuen – von der Frauenberatungsstelle ganz zu schweigen, so sie denn wissen, dass es hier diese Hilfseinrichtung gibt.

Hochrisikomanagement in Gelsenkirchen befindet sich gerade im Aufbau

Asmaa El Makhoukhi sagt deshalb: „Fehler im System müssen offen benannt und verbessert werden“. Dazu sicherte ihr der Sozialausschuss parteiübergreifend volle Unterstützung zu. Denn es ist ja nicht so, als ob man in Gelsenkirchen das Problem nicht längst erkannt hat. Genau deshalb wurde auch in Gelsenkirchen eine eigene Stelle für die Umsetzung des Gewaltschutzes eingerichtet.

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Ein Hochrisikomanagement wie beispielsweise in Mannheim – bundesweit gibt es El Makhoukhi zufolge nur drei Bundesländer mit einem solchen Fragenkatalog (Checkliste) für Ämter, Behörden und Einrichtungen, um potenzielle Gefährdungen effektiver zu erkennen – befindet sich in Gelsenkirchen zwar „noch im Aufbau“. Dass es kommt, ist aber sicher, auch wenn der Schutz der persönlichen Daten dabei eine nicht unerhebliche Hürde darstellt. Die gute Zusammenarbeit der handelnden Akteure auch am Runden Tisch gegen häusliche und sexualisierte Gewalt sind hier deutliche Mutmacher.

Die stellvertretende Gleichstellungsbeauftragte respektive die Stadt möchte des Weiteren dem Beispiel anderer folgen und dem Problem Häusliche Gewalt unter anderem auch mit „behördenübergreifenden Fallkonferenzen“ begegnen, um die Beteiligten enger zu verzahnen und damit sie schneller handeln können. Zudem gibt es die Idee einer barrierearmen Beratung über einen Chat. Mehrsprachige Informationen, verteilt vom Jobcenter bis zum Ausländeramt, an Schulen und Kitas und die bundesweite Hilfenummer auf den Fahrzeugen von KOD, Gelsendienste und Feuerwehr sollen zusätzliche Aufmerksamkeit erzeugen und Hilfesuchende leiten.

Stadtspitze hat beim Land zweimal Dringlichkeit für ein zweites Frauenhaus angezeigt

Es sind offenbar dicke Bretter, die gebohrt werden müssen. Auch das wurde deutlich in der Sitzung des Sozialausschusses. Oberbürgermeisterin Karin Welge hat für Gelsenkirchen deshalb auch zum zweiten Mal die Dringlichkeit nach Düsseldorf übermittelt, hier ein zweites Frauenhaus einzurichten. Eine Antwort der Landesregierung steht noch aus.