Gelsenkirchen. Wie Superintendent Montanus und Stadtdechant Pottbäcker mit der Gelsenkirchener Austrittswelle umgehen. Und was die Pandemie verändert hat.

Ihr Kinderlein kommet? Was aber, wenn sie nicht (mehr) in die Gottesdienste wollen, die kleinen und großen Gläubigen – sondern austreten? Dieser Situation sehen sich die beiden großen Konfessionen gegenüber: Den einstigen Volkskirchen kommt das Volk abhanden. Wie die Verantwortlichen in Gelsenkirchen damit umgehen, zumal in der Pandemie, die ihnen massive Veränderungen aufzwingt, dazu reden anlässlich des christlichen Hochfests Weihnachten zwei Repräsentanten Klartext: Heiner Montanus, Superintendent des Evangelischen Kirchenkreises Gelsenkirchen und Wattenscheid, sowie Stadtdechant Markus Pottbäcker.

Es war im Sommer, als die katholische und die evangelische Kirche für 2020 die für sie unfrohe Botschaft verkündeten: Nur noch 51 Prozent aller Deutschen sind Kirchenmitglieder. Sprich: In einigen Monaten dürften sie in der Minderheit sein. Wer die Entwicklung seit Jahren verfolgt, wird kaum überrascht gewesen sein. Trotzdem lässt sie Montanus und Pottbäcker nicht kalt.

Gelsenkirchener Stadtdechant sieht Christen schon länger „als Gruppe marginalisiert“

„Das Glas ist halbvoll“, sagt Heiner Montanus, Superintendent des Evangelischen Kirchenkreises Gelsenkirchen und Wattenscheid, angesichts des Mitgliederschwunds der einstigen Volkskirchen und der Veränderungen, die die Pandemie ihnen aufzwingt.
„Das Glas ist halbvoll“, sagt Heiner Montanus, Superintendent des Evangelischen Kirchenkreises Gelsenkirchen und Wattenscheid, angesichts des Mitgliederschwunds der einstigen Volkskirchen und der Veränderungen, die die Pandemie ihnen aufzwingt. © Funke Foto Services GmbH | Olaf Ziegler

„Ich finde das schade“, so der Superintendent (59). Ihm gehe es dabei weniger um den finanziellen Aspekt der sinkenden Kirchensteuer-Einnahmen. „Vielmehr lebt die Kirche von Gemeinschaft, der Kreativität und den Gaben der einzelnen Gläubigen. Wenn die weniger werden, trifft uns das natürlich.“

Das Gefühl, „als Gruppe marginalisiert“ zu sein, hat Pottbäcker (55) freilich schon länger. Frustriert sei er deswegen jedoch nicht, betont er, und resignieren werde er deshalb auch nicht. „Ich finde es nicht schlimm, einer Minderheit anzugehören. Religion und Spiritualität sind nach wie vor überall ein Thema, nicht nur bei denjenigen, die offiziell an die Kirche gebunden sind“, betont er. Die frohe Botschaft von der Geburt und Auferstehung Jesu existiere schließlich unabhängig von Mitgliederzahlen.

Austrittswelle und Corona nehmen Gemeinden vor Ort in die Zange

„Allgemein ist es keine schlechte Entwicklung, Institutionen in Frage zu stellen“, meint Stadtdechant Markus Pottbäcker, Propst in St. Urbanus und St. Augustinus in Gelsenkirchen.
„Allgemein ist es keine schlechte Entwicklung, Institutionen in Frage zu stellen“, meint Stadtdechant Markus Pottbäcker, Propst in St. Urbanus und St. Augustinus in Gelsenkirchen. © Funke Foto Services GmbH | Olaf Ziegler

Die Kirche müsse sich überdies fragen, warum die Menschen austreten. „Für viele ist der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch Geistliche und der Umgang mit diesem Skandal ein Grund. Andere haben sich ganz grundsätzlich von der Institution Kirche entfernt.“ Das gleiche Problem hätten auch Parteien, Gewerkschaften und Vereine. „Allgemein ist es auch keine schlechte Entwicklung, Institutionen in Frage zu stellen.“

Wie die zwei Kirchen in Gelsenkirchen schrumpfen

Im Jahr 2020 zählte das katholischeStadtdekanat Gelsenkirchen 77.312 Mitglieder nach 78.015 im Vor-Corona-Jahr 2019. Zehn Jahre vorher (2010) waren es noch 92.246 Gläubige. Aus der Kirche ausgetreten sind 2020 nach Angaben des Bistums Essen 448 Gelsenkirchenerinnen und Gelsenkirchener, 2019 waren es 522, zuvor (2018) 344.

Der Evangelische Kirchenkreis (KK) Gelsenkirchen und Wattenscheid listet für 2020 insgesamt 79.663 Gemeindemitglieder auf, zuvor waren es 82.578 (2019) und 83.649 (2018). Laut KK traten 411 Gläubige im Jahr 2020 aus der Kirche aus, zuvor waren es 610 (2019) und 468 (2018). Im laufenden Jahr 2021 waren es bis zum 22. Dezember 468 Protestanten.

Dass Austrittswelle und Coronakrise die Kirchen nun von zwei Seiten in die Zange nehmen, stellt die Verantwortlichen vor besondere Herausforderungen. Denn das Virus hat das Gemeindeleben in den Stadtteilen zum Teil tiefgreifend verändert. Weil Präsenzgottesdienste zu Beginn der Pandemie nicht empfohlen waren, galt es, die Arbeit vor Ort von jetzt auf gleich umzugestalten. „Das hat uns elementar getroffen“, räumt Montanus ein.

Superintendent: Ausgrenzung Ungeimpfter macht Gemeinden schwer zu schaffen

Auf Online-Gottesdienste „waren wir eher schlecht vorbereitet, schließlich leben wir von der Begegnung.“ Positiv sei, dass die Haupt- und Ehrenamtlichen mit viel Kreativität neue Formen wie Open-Air-Gottesdienste, den Ostergarten in Trinitatis oder Trauergespräche beim Spaziergang entwickelt hätten. Andere hätten regelmäßige Telefonate vereinbart, um den Kontakt zu Gläubigen zu halten, oder Senioren Textpakete in die Briefkästen geworfen.

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„Aber wahr ist auch, dass es vielen Gemeinden und Presbytern schwer zu schaffen macht, wenn sie – wie derzeit – Risiken abwägen und 2G-Regeln für Gottesdienstbesuche festlegen müssen. Denn einerseits verstehen wir uns als Kirche für alle und wollen niemanden ausschließen, andererseits tragen wir auch Verantwortung für besonders Schutzbedürftige, und da ist es gut und richtig, wenn nur Geimpfte und Genesene dabei sind“, so der Superintendent.

Stadtdechant: Pandemie beschleunigt Auflösung von Vereinen und Verbänden

Dieses Gefühl der Zerrissenheit kennt auch Pottbäcker als Propst von St. Augustinus und St. Urbanus nur zu gut: „Es gibt Gläubige, die treten aus der Kirche aus, gerade weil wir in Gottesdiensten aus Infektionsschutzgründen auf Abstand achten und auf Einhaltung der Maskenpflicht dringen“, berichtet er.

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Insgesamt wirke die Pandemie wie ein Katalysator, weil Entwicklungen beschleunigt würden: „In der Feldmark haben sich etwa zwei Chöre aufgelöst, die unter anderen Umständen womöglich noch weiter existiert hätten.“ Auch sonst präge Corona die Arbeit (nicht nur) der Hauptamtlichen vor Ort: „Ich frage mich vor jeder Predigt: Muss ich noch mal auf Covid-19 eingehen – oder können die Leute es schon nicht mehr hören?“

Einige neu entwickelte digitale Formate sollen beibehalten werden

Was am Ende übrig bleibt von den Veränderungen, die Corona den Gemeinden aufgezwungen hat? Welche Wege die Kirchen vor Ort als Minderheit gehen? „Wir werden die Pandemie anders verlassen, als wir reingegangen sind“, ist sich Pottbäcker sicher. Wie Montanus befürwortet er, neu entwickelte Formen wie Live-Übertragungen von (Beerdigungs-)Gottesdiensten beizubehalten. „Auch die Chatgottesdienste werden sicher bleiben“, so der Propst.

Angesichts der Austrittswelle will Montanus „nicht mehr warten, dass die Leute zu uns kommen, sondern unser Gottesdienst-Angebot stärker zielgruppenorientiert ausdifferenzieren“. 10-Uhr-Sonntagsgottesdienste etwa gingen an der Lebenswirklichkeit vieler junger Familien vorbei. „Da sind Angebote etwa samstags am späten Nachmittag denkbar.“

Montanus: Weihnachtsbotschaft ist in Pandemie unvermindert aktuell

Auch in Bezug auf Konfirmationen könnten die kleinen Formate mit nur einer Handvoll Jugendlichen Bestand haben, ebenso Schulgottesdienste für einzelne Klassen. „Natürlich ist es aufwendig, wenn ein Pfarrer wie Bernd Naumann in der Epiphanias-Gemeinde 25 Konfirmationen hat oder Pfarrerin Andrea Rylke-Voigt 20 Schulgottesdienste. Aber die Rückmeldungen zeigen, dass diese als besonders persönlich empfunden werden.“

Ist das Glas also halbvoll? Montanus schüttelt bedauernd den Kopf. „Nein, wenn wir im Bild bleiben wollen, geht das Glas zur Neige.“ Die Akteurinnen und Akteure in der Kirche dürften sich deshalb nicht ausruhen, sie müssten etwa in Gottesdiensten praktisch nutzbare Impulse setzen und mit Überraschendem punkten.

Aktuelles Spardiktat erschwert Situation zusätzlich

Dass die aktuellen Sparmaßnahmen in der Emmaus-Großgemeinde das Geschäft die Situation noch verschärfen könnten, ist ihm klar. Wie berichtet, sollen die Kreuzkirche in der Feldmark, die Friedenskirche in Schalke und die Rotthauser Kirche ebenso wie das Gemeindezentrum Rotthausen und das Katharina-von-Bora-Haus aufgegeben werden. „Wir werden aber weiterhin vor Ort präsent bleiben“, verspricht Montanus und bleibt dabei: Die Protestanten müssten insgesamt mutiger auftreten und „für Hingucker sorgen“.

Die Weihnachtsbotschaft indes, sie sei in der Pandemie unvermindert aktuell: „Distanz mag jetzt für uns das Gebot der Stunde sein. Aber in genau diese Welt voller Probleme wird Jesus hineingeboren. Und das zeigt: Gott geht eben nicht auf Abstand zu uns. Er ist ganz nah.“