Gelsenkirchen. Hunderte Jüdinnen und Juden wurden 1942 am Gelsenkirchener Wildenbruchplatz von Nazis zusammengepfercht und deportiert. Schalke-Fans erinnern.
Und dann ist über die Lautsprecher der Synagoge in Gelsenkirchen eine alte, gebrechliche Männerstimme zu hören und es wird ganz still im Saal. Die Erinnerungen des heute 96-jährigen Rolf Abrahamson an den 27. Januar 1942, sie sind markerschütternd und sie sind Zeugnis schwerster Verbrechen in der Menschheitsgeschichte. Es sind Erinnerungen an die Deportation Hunderter Jüdinnen und Juden vom Wildenbruchplatz in Gelsenkirchens Mitte in die Konzentrationslager in Osteuropa. Nur 60 der 500 von diesem Ort aus verschleppten Menschen werden den Holocaust überleben. Das ist ein Teil ihrer und der Geschichte der Stadt:
Fans des FC Schalke 04 haben Abrahamson getroffen und die Aufnahmen von ihm gefertigt. Nach einer von Fanprojekt und Schalke 04 durchgeführten Gedenkstättenfahrt zum Konzentrationslager Auschwitz entstand bei teilnehmenden S04-Anhängern der Wunsch, das unermessliche Leid der Gelsenkirchener Juden sichtbarer zu machen.
Deportation Gelsenkirchener Juden Anfang 1942
In Kooperation mit Historikern des Instituts für Stadtgeschichte Gelsenkirchen (ISG) gingen die Bürger-Forscher in den vergangenen Monaten auf Spurensuche der größten Deportation Gelsenkirchener Juden Anfang 1942, um das Schicksal der entrechteten Menschen aufzuarbeiten.
„Ihre letzten Tage in der Heimat müssen jene auf engstem Raum zusammengepfercht in der – später durch Kriegsbomben zerstörten – Ausstellungshalle am Wildenbruchplatz in der Nähe des Hauptbahnhofs verbringen, wo heute die Polizeiwache Süd, Straßen NRW und ein Parkplatz sind“, zitiert Benjamin Munkert vom Schalker Fanprojekt aus den Recherchen seiner Gruppe, die die Beteiligten am Vorabend des 9. November – dem Gedenktag an die Novemberpogrome 1938 – in der Gelsenkirchener Synagoge vorstellen.
Dort begrüßt sie Judith Neuwald-Tasbach, Vorsitzende der jüdischen Gemeinde, mit einem „großen, persönlichen Dank“. Denn die Geschichte der Deportation der Jüdinnen und Juden aus Gelsenkirchen ist auch Teil ihrer Familiengeschichte. Ihr Vater, Kurt Neuwald, und weitere Familienmitglieder wurden in den Ausstellungshallen am Wildenbruchplatz ebenfalls bis zum Transport eingesperrt. „In eben jenen Hallen, in denen mein Vater zuvor stolz Waren aus unserem Bettengeschäft präsentiere“, erinnert sich Neuwald-Tasbach. „Was muss das nur für ein Gefühl gewesen sein?“.
Allzu viel weiß sie über den Wildenbruchplatz und die Deportation selbst nicht, gesteht Neuwald-Tasbach. Ihr Vater habe ihr zeitlebens nur in Auszügen davon berichtet. „Ich nehme an, er wollte mich davor bewahren, dass mir zu genaue Schilderungen der Gräueltaten ein Leben in Deutschland unmöglich machen. Umso dankbarer bin ich für dieses Recherche-Projekt“, so die Vorsitzende der jüdischen Gemeinde.
Lesen Sie hier:
- Haftstrafe nach judenfeindlichen Parolen in Gelsenkirchen
- Hass und Liebe: So ist das Leben als Jude in Gelsenkirchen
- Kurt Nuewald macht jüdisches Leben Gelsenkirchen möglich
Deportations-Zug aus Gelsenkirchen war völlig überfüllt und tagelang unterwegs
Fünf Tage war der Zug, der in Gelsenkirchen startete und über Dortmund nach Riga in Lettland fuhr, unterwegs. „Im Zug“, daran erinnert sich Abrahamson, der damals erst 16 Jahre alt war, „war nicht ein bisschen Platz. Wir konnten uns nicht hinlegen, nicht einmal die Beine ausstrecken, so eng war es in dem Waggon“. Die Insassen leckten das Kondenswasser von den Scheiben, um nicht zu verdursten.
Es war, so steht es in der Stadtchronik eine der kältesten Nächte seit langer Zeit. Minus 26 Grad Celsius wurde gemessen, Schnee und Eis bedeckten Straßen, Wege und Schienen. Freiwillige Helfer der Nazis und Zwangsarbeiter machten den Abtransport – die „Umsiedlung“, wie die Deportationen im Dritten Reich genannt wurden – dennoch möglich. Etwa 440 Jüdinnen und Juden sahen Gelsenkirchen an diesem Tag zum letzten Mal. Sie überlebten das Ghetto oder Konzentrationslager nicht. Bislang erinnert am Wildenbruchplatz nur ein Stolperstein für Helene Lewek an das Geschehene. Lewek entzog sich der Deportation, in dem sie die Flucht in den Tod wählte.
Auf Anregung der Arbeitsgruppe um die Schalke-Fans wird die Stadt Gelsenkirchen am 27. Januar 2022 nun außerdem eine Gedenktafel an jenem Ort enthüllen, der von den Nazis als Sammellager zweckentfremdet wurde.