Gelsenkirchen. Obwohl er überall leben kann, kehrt Kurt Neuwald nach dem Holocaust in seine Heimat Gelsenkirchen zurück - ohne Groll und voller Zuversicht.
„Mein Vater hat ganz fest daran geglaubt, dass es eine bessere Zukunft gibt, dass Deutschland sich weiter entwickeln wird und dass auch das Judentum zum Leben hier dazu gehört“, erinnert sich Judith Neuwald Tasbach an ihren Vater Kurt Neuwald. Er legt einst den Grundstein für jüdisches Leben in der Stadt Gelsenkirchen nach der Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten. Mehr noch: Als Mitbegründer des Zentralrates der Juden in Deutschland prägt er auch das Miteinander der Religionen in der ganzen Republik.
Als Kurt Neuwald am 23. November 1906 als zweiter Sohn seiner Eltern geboren wird, ist die Familie Neuwald anerkannt und wichtiger Teil der Gelsenkirchener Gesellschaft. Sie ist eine der traditionsreichsten der Stadt und persönlich mit vielen bekannt. Bei „Betten Neuwald“ nämlich an der Arminstraße kauft so manch einer die Kissen, auf die er nachts sein Haupt bettet.
„Die Federn flogen durch die ganze Arminstraße!“
Entsprechend sicher fühlt sich die Familie, als die Nationalsozialisten an die Macht kommen. Man ist doch anerkannt in der Stadt. „Mein Großvater Leopold hat noch 1935 die Verdienstmedaille für seine Dienste im Ersten Weltkrieg erhalten.“ Doch auch das schützt die Familie nicht, als in der Reichspogromnacht, am 9. November 1938, der braune Mob durch die Straßen zieht, als die Synagoge ebenso verwüstet wird wie jüdische Geschäfte und Wohnungen. Auch das Bettengeschäft fällt dem zum Opfer. „Die Federn flogen durch die ganze Arminstraße!“
Kurt Neuwald flieht zunächst nach Köln, wo er von nichtjüdischen Freunden versteckt, der Verhaftungswelle entgeht. Danach wird das Haus der Familie zum „Judenhaus“ erklärt. Man muss nahezu alle Zimmer für andere Juden räumen. Vater Neuwald muss täglich zehn bis zwölf Stunden Zwangsarbeit auf der Zeche leisten. Doch es kommt noch schlimmer: Die Familie wird im Januar 1942 in das Ghetto Riga deportiert. Weil er angibt, Autos reparieren zu können, entgeht er „diversen Aktionen“ der Nazis, wie Judith Neuwald-Tasbach es beschreibt. Natürlich hat der Vater von Kraftfahrzeugen keine Ahnung. Der Werkstattleiter des „Heeres-Kraftfahrzeugparks“ aber deckt ihn.
Nur Kurt und sein Bruder Ernst überleben den Holocaust
Weil das Lager 1944 aufgelöst wird, wird Kurt Neuwald, erstmals von der Familie getrennt, ins Konzentrationslager „Stutthof“ bei Danzig und wenig später ins KZ „Buchenwald“, Außenlager Magdeburg, gebracht. Kurz vor der Befreiung durch die Amerikaner entgeht er hier nur knapp und mit Glück dem Tode. Wenig später kehren Kurt Neuwald und sein Bruder Ernst zurück nach Gelsenkirchen – als einzige Überlebende der einst 26-köpfigen Familie Neuwald.
Überall in der Welt kann Kurt Neuwald leben, an unzähligen Orten hat er Verwandtschaft, die ihn gern aufnehmen möchte. Er aber entscheidet sich für seine Heimat, für sein Gelsenkirchen. „Als Grund dafür hat er mir auch nur das gesagt, was er auch allen anderen gesagt hat: Er will nicht, dass Hitler doch noch obsiegt und dass Deutschland ,judenrein’ wird. Ich denke aber auch, er hat seine Heimatstadt geliebt.“ Beeindruckend ist das in jedem Fall. Denn die vielen Bekannten von einst, die dann willfährige Mitläufer des NS-Regimes werden, sind ja auch nach dem Krieg noch da, begegnen Kurt Neuwald auf der Straße. „Wenn man sich die einzelnen Schicksale jüdischer Menschen im Dritten Reich anschaut, dann ist es ein Wunder, dass Menschen sich entschieden haben, zu bleiben“, sagt Judith Neuwald-Tasbach. „Mein Vater ist ja auch auf alle diese Menschen getroffen. Aber ich habe nie gespürt, dass er Vorurteile hatte.“
Gründungsmitglied des Zentralrates
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Kurt Neuwald bleibt. Als einer der ersten, die zurück in Gelsenkirchen sind, hilft er jenen, die später kommen, gründet ein Hilfskomitee, aus dem später die „jüdische Kultusgemeinde Gelsenkirchen“ hervorgeht. „Wir hatten oft Besuch von Menschen, die ihre Angehörigen suchten. Ich war noch klein, aber ich erinnere mich gut an einen Ausdruck, den ich damals nicht verstehen konnte: für tot erklärt. Der Begriff fiel immer wieder im Gespräch und ich habe mich dann gefragt, sind diese Menschen nun tot? Oder nicht? Was heißt denn das: für tot erklärt? Das war eine ganz schauerliche Vorstellung für mich.“ Den Hintergrund dieses Ausdrucks versteht Judith Neuwald-Tasbach erst später: „Das bedeutet, dass es einen Zeugen gab, der den Leichnam gesehen hat.“ Irgendwo in einem KZ oder andernorts. „Das ist schrecklich. Man kann nicht Abschied nehmen, hat kein Grab – dabei ist das im Judentum so wichtig.“
Der Einsatz für die jüdischen Menschen in der Region reicht Kurt Neuwald nicht aus. In einer großen Runde vieler Vorsitzender jüdischer Gemeinden gewinnt man die Überzeugung, dass es eine Struktur braucht, welche jüdisches Leben bundesweit vertritt. Es ist die Geburtsstunde des Zentralrates der Juden. „Da war er bis ins hohe Alter in verschiedenen Positionen aktiv.“
Offen für alle Kulturen
Auch privat nimmt Kurt Neuwald sein Schicksal in die Hand. Er baut das Bettengeschäft ein paar Häuser weiter an der Arminstraße wieder auf und heiratet in zweiter Ehe Cornelia Basch. Seine erste Frau Rosa hat den Holocaust nicht überlebt. 1948 wird die erste gemeinsame Tochter Margitta geboren, 1959 dann die kleine Judith. Sie hat eine enge Bindung zum Papa, noch verstärkt durch den frühen Tod der Mutter.
Tochter übernahm die Gemeinde, nicht das Geschäft
Judith Neuwald-Tasbach ist heute die Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Gelsenkirchen. Hier tritt sie in die Fußstapfen ihres Vaters. Beruflich allerdings wollte sie das nicht.Zu gern hätte es Kurt Neuwald gesehen, wenn seine Tochter die „Bettenfachschule“ besucht und dann den Familienbetrieb übernommen hätte. Jene aber studiert Transportwesen, ist diplomierte Betriebswirtin. Im erlernten Beruf ist sie nicht mehr tätig. Ihre ganze Zeit ist in Anspruch genommen von ihrer Berufung, der ehrenamtlichen Leitung der Gemeinde.
Wann immer Judith Neuwald-Tasbach von ihrem Vater erzählt, leuchten ihre Augen. „Mein Vater war sehr traditionell eingestellt, hat Zeit seines Lebens kaum einen Gottesdienst versäumt“, erinnert sich die Tochter. „Bei uns zu Hause wurden alle Feiertage eingehalten. Ihm war auch wichtig, dass ich in den Religionsunterricht gehe.“ Gleichsam ist man im Hause Neuwald offen für Menschen aller Religionen. „Ich war im katholischen Kindergarten und in der evangelischen Grundschule. Das hat vielleicht bei mir die Grundlage gelegt für mein interreligiöses Verständnis.“
Jeden Sonntag geht es in den Zoo
Der Spaß aber sei niemals zu kurz gekommen, erinnert sich die Tochter an viele gemeinsame Unternehmungen. „Mein Vater hat ganz viel gearbeitet. Aber jeden Sonntag sind wir in den Zoo gegangen. Die Pfleger und sogar die Tiere kannten uns gut. Erst durfte ich auf dem Spielplatz schaukeln, dann ging es eine Runde durch den Zoo. Mein Vater war auf seine Weise ein sehr liebevoller Vater. So ganz emotional war er nicht. Ich glaube, dafür saß das Trauma einfach zu tief.“
Die Liste der Aktivitäten und Ämter Kurt Neuwalds ist lang, so groß war zeitlebens sein Engagement: 1946 ist er einer von drei Gründern des Landesgemeindeverbands der Jüdischen Gemeinden von Westfalen-Lippe, dessen Vorstand er seitdem angehört. Ab 1956 leitet er die jüdische Kultusgemeinde Gelsenkirchen – fast vierzig Jahre lang. Vier Jahre später kann das erste Bethaus der Gemeinde im Parterre eines Privathauses in der Von-der-Recke-Straße eingeweiht werden. Von 1963 bis 1994 ist Kurt Neuwald Vorsitzender des Landesgemeindeverbands Westfalen-Lippe, wird danach zum Ehrenvorsitzendem bestimmt. Im Zentralrat der Juden in Deutschland ist er nicht nur Gründungsmitglied, er ist auch von 1969 bis 1982 dessen Finanzdezernent und von 1973 bis 1976 Mitherausgeber der Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung. Der gelernte Kaufmann gilt als erfahrener Finanzexperte und sehr guter Verwalter.
Großes Verdienstkreuz der Bundesrepublik mit Stern
An seinem 88. Geburtstag wird Kurt Neuwald, in Anwesenheit seines Freundes, dem damaligen nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Johannes Rau, die Ehrenbürgerschaft der Stadt Gelsenkirchen verliehen. 1999 erhält er das große Verdienstkreuz mit Stern der Bundesrepublik Deutschland – das Bundesverdienstkreuz hatte er schon 1958 erhalten, ebenso wie 1986 den Verdienstorden des Landes Nordrhein-Westfalen.
Kurt Neuwald stirbt im Februar 2001 im Alter von 94 Jahren. Nach ihm wird im Jahr 2005 der Kurt-Neuwald-Platz in der Gelsenkirchener Innenstadt benannt – in Sichtweite des einstigen Familiengeschäftes an der Arminstraße.
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