Gelsenkirchen. . Zum Holocaust-Gedenktag berichtete Rolf Abrahamson Schülern des Carl-Friedrich-Gauß-Gymnasiums in Gelsenkirchen von seiner Umsiedlung ins Ghetto nach Riga und seiner Rückkehr nach Deutschland. Der 85-Jährige hat sieben Konzentrationslager überlebt.
Sie hängen an seinen Lippen. Von der Unterstufe bis zur Stufe 13 lauschen die Schüler in der Aula des Carl-Friedrich-Gauß-Gymnasiums gebannt den Worten des 85-jährigen Marlers, der vorne auf der Bühne sitzt und erzählt. Und das ist alles andere als eine Märchenstunde. Rolf Abrahamsohn berichtet aus seinem Leben. Abrahamsohn ist Jude und hat im Nationalsozialismus sieben Konzentrationslager überlebt.
Hier tuschelt niemand, hier kichert niemand, hier stört niemand. Jedes Jackenrascheln wird als lästig empfunden. Was Rolf Abrahamsohn erzählt, ist spannend, ist aufregend, ist unglaublich - und leider wahr. Hin und wieder provoziert der Senior Lacher, tut sich etwa schwer beim Wort „E-Mail“. Das lockert die Anspannung im Saal ein wenig. Aber es bleibt leise.
SS prügelte Vater nieder
Der Jude erzählt von der Reichspogromnacht am 9. November 1938, in der das Haus seiner Familie in Marl angezündet wurde und statt der Feuerwehr die SS ausrückte, die seinen Vater niederknüppelte. Da war er 13 Jahre alt.
Er erzählt von der Deportation zum Wildenbruchplatz in Gelsenkirchen, von wo aus der Weg für 506 Juden aus dem Präsidialbezirk Recklinghausen ins Ghetto nach Riga führte. Bis zu diesem Tag, genau drei Jahre vor der Befreiung von Auschwitz, nämlich am 27. Januar 1942, hatte er in Recklinghausen gelebt. Marl war inzwischen „judenfrei“.
„Im Zug Richtung Osten war es tagsüber heiß. Und nachts eiskalt - zum Glück. So konnten wir das gefrorene Wasser von den Fenstern ablecken, damit wir nicht ganz verdursten.“ Acht Tage lang dauerte die Fahrt nach Lettland. Da war Abrahamsohn 14 Jahre alt. Und seine Odyssee durchs Deutsche Reich fing gerade erst an. Die KZs Buchenwald, Theresienstadt und andere kamen erst noch.
Vergangenheit zehrt an den Kräften des 85-Jährigen
Zum Schluss der vom Verein Gelsenzentrum initiierten Veranstaltung versagt dem 85-Jährigen, der heute wieder in Marl lebt, die Stimme: „Jetzt habe ich zu Ihnen gesprochen. Aber einmal im Jahr reicht’s auch. Das ist anstrengend.“ In der Aula wird es noch stiller.
Bevor Rolf Abrahamsohn unter Applaus verabschiedet wird, stellt er sich den wenigen Fragen der 200 Schüler. „Wie war es für Sie, nach dem Krieg hier in Deutschland zu bleiben?“, möchte eine Schülerin wissen. Nach dem Krieg war der Jude nach Recklinghausen, später nach Marl zurückgekehrt. Ursprünglich hatte er auswandern wollen, bekam die nötigen Papiere aber erst 1950 - da hatte er sich schon eine Existenz aufgebaut. Und blieb. „Alles weiß ich noch, und das ist das Schlimmste an der Geschichte.“