Gelsenkirchen. Vor genau 150 Jahren legten jüdische Familien den Grundstock für eine jüdische Gemeinde in Gelsenkirchen. Die neue Gemeinde will 2021 nachfeiern.

Vor 150 Jahren beschlossen einige jüdische Familien, dass Gelsenkirchen eine Synagoge bekommen sollte. Sie verfassten Statuten für eine eigenständige jüdische Gemeinde, um jüdisches Leben in der Stadt fest zu etablieren. Eigentlich wollte die nach der Shoah von Rückkehrern gegründete neue jüdische Gemeinde dieses Jubiläum groß feiern; doch Corona machte einen Strich durch die Rechnung. Das Fest wird 2021 gemeinsam mit den Feierlichkeiten zu „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ nachgeholt: Mit Ausstellungen, Aufführungen im Musiktheater im Revier, Konzerten, Festen, Veranstaltungen in der Volkshochschule.

Erste Erwähnung in Gelsenkirchen Anfang des 18. Jahrhunderts

„Seit der Tempelzerstörung gibt es Juden in Deutschland, das wissen die wenigsten. Und es gibt auch viele Worte und Redewendungen aus der jiddischen Sprache, die in unseren Alltag eingeflossen sind. Aber Juden in Deutschland wurden über sehr lange Zeit sehr schlecht behandelt und gedemütigt, mit Abgaben aller Art, Berufseinschränkungen und ohne Bürgerrechte“, erklärt Judith Neuwald-Tasbach, Vorsitzende der neuen jüdischen Gemeinde seit 13 Jahren. In Gelsenkirchen leben Juden nachweislich mindestens seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts. 1717 wurde Salomon Samuel in der Dorfchronik erwähnt, 1818 waren dort vier jüdische Mitbürger vermerkt. In den nächsten Jahrzehnten kamen im Zuge der Industrialisierung der Region immer mehr jüdische Kaufleute mit ihren Familien, um sich hier niederzulassen. Durch die Eisenbahn (1847) und die Zeche Hibernia (1861) wuchsen die Städte weiter und mit ihr die Zahl der Juden.

Zum Gottesdienst mussten Gläubige nach Wattenscheid laufen

Fünf prachtvolle Exemplare der Thora, der hebräischen Bibel, besitzt die Gemeinde. Vier davon stehen in der Synagoge, eine im Museum.
Fünf prachtvolle Exemplare der Thora, der hebräischen Bibel, besitzt die Gemeinde. Vier davon stehen in der Synagoge, eine im Museum. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

Zum Beten jedoch mussten die Gläubigen aus Gelsenkirchen in die Wattenscheider Synagoge gehen, die Bueraner Juden zur Synagoge nach Dorsten. In Wattenscheid beziehungsweise Dorsten wurden die Festtage begangen und die Toten beerdigt, auch die Lehrer für den Unterricht der Schüler kamen aus den Nachbarorten. Mit Bürgerrechten ausgestattet waren die bis dahin nur begrenzt Geduldeten erst nach der Revolution 1848. Für die gut 60 jüdischen Einwohner wurde schließlich 1863 ein Betsaal angemietet an der Hochstraße 34, heute Hauptstraße. Später zogen sie ins eigene Gemeindehaus an der Neustraße/Gildenstraße mit Betsaal für 50 Menschen, Mikweh (Tauchbad), einem Klassenzimmer und einer Hausmeisterwohnung.

Orthodoxe spalteten sich ab

1874, ein Jahr bevor Gelsenkirchen die Stadtrechte erhielt, bekam die Gemeinde die Korporationsrechte zur Gründung einer eigenen Gemeinde. Von den Wattenscheidern kaufte man sich mit 300 Talern frei. Lediglich die Ückendorfer Juden blieben bis 1908 bei den Wattenscheidern. Erklärtes Ziel der neuen Gemeinde mit 36 Familien, deren Betsaal bereits aus allen Nähten platzte: Der Bau einer eigenen Synagoge. 1885 konnte diese am heutigen Platz der Synagoge an der Gildenstraße eingeweiht werden. 256 Männer fanden im Erdgeschoss Platz, 106 Frauen auf der Empore. An hohen Feiertagen aber war selbst dieses Haus schnell zu klein. 1894 wurde das neue Schulgebäude der Gemeinde für 80 jüdische Schüler an der Ringstraße eingeweiht, wo auch Gottesdienste abgehalten wurden. Die Gemeinde war als liberale Gemeinde gegründet worden, die Gebete wurden zum Großteil in deutscher Sprache gesprochen. Als jedoch eine Orgel eingebaut wurde, spalteten sich die Vertreter des orthodoxen Judentums ab, mieteten eigene Beträume an, feierten Gottesdienste nach ihren Regeln. Eine eigene Gemeinde zu gründen scheiterte jedoch am Veto der Bezirksregierung, die die Mitgliederzahlen als zu gering einschätzte.

1778 jüdische Bewohner in Gelsenkirchen im Jahr 1929

Gebete für das Neujahrfest in einer historischen Ausgabe, verfasst auf Hebräisch und Deutsch. Das jüdische Neujahrsfest wird in diesem Jahr am 19. September gefeiert.
Gebete für das Neujahrfest in einer historischen Ausgabe, verfasst auf Hebräisch und Deutsch. Das jüdische Neujahrsfest wird in diesem Jahr am 19. September gefeiert. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

Nach der Eingliederung der Ückendorfer Juden 1908 zählte die liberale Gemeinde in Alt-Gelsenkirchen 1215 Mitglieder. Zur Gemeinde gehörten ein Frauen- und Männerverein, ein Unterstützungsverein, ein Synagogenchor und ein Literaturverein. Es gab die jüdische Schule und seit 1874 den im jüdischen Glauben sehr wichtigen eigenen Friedhof an der Wanner Straße, nach dessen Vollbelegung wurde 1927 eine weitere Beerdigungsstätte in Ückendorf eingerichtet.

1929 lebten im Gelsenkirchener Süden 1778 Juden. Jüdische Menschen fühlten sich damals als Teil der Gesellschaft, waren unter anderem Geschäftsleute, Ärzte und Anwälte, und haben auch als Patrioten im ersten Weltkrieg für ihr Vaterland gekämpft. Erste Angriffe und Übergriffe von Antisemiten in der Stadt hatte es schon zum Ende des 19. Jahrhunderts gegeben, als die Zahl jüdischer Mitbürger stark stieg. Damals gab es jedoch Proteste gegen die Angriffe auch aus der Bürgerschaft. Doch ab März 1933 galt der Befehl, jüdische Geschäfte, Arztpraxen und Anwaltsbüros zu boykottieren, Beamte wurden aus dem Staatsdienst entlassen, es folgten die „Nürnberger Gesetze“, sowie „Arisierungsmaßnahmen“ unterschiedlichster Art, und schließlich Deportationen. Am 9. November 1938 setzten Nationalsozialisten auch die Gelsenkirchener Synagoge in Brand. Mehr als 600 Juden, die nicht rechtzeitig geflohen waren, wurden aus Gelsenkirchen deportiert, mehr als 500 fielen dem Menschenhass zum Opfer und starben, nur wenige überlebten den Holocaust.

100 Deportierte und Geflüchtete kehrten nach dem Krieg zurück

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Nach dem Krieg kehrten rund 100 jüdische Bürger – Überlebende der Konzentrationslager und wenige rechtzeitig Emigrierte – nach Gelsenkirchen zurück, unter ihnen der Kaufmann Kurt Neuwald, der Vater von Judith Neuwald-Tasbach, der den Mut hatte, trotz der bitteren Erfahrungen aus der Nazizeit einen Neuanfang in der Stadt zu wagen. Bereits 1958 konnte die neu konstituierte jüdische Gemeinde Gelsenkirchen ihren Betsaal an der Von-Der-Recke-Straße einweihen. Bis zum Wiederaufbau der Neuen Synagoge am alten Platz sollte es noch 49 Jahre, bis 2007, dauern. Heute zählt die traditionell orthodoxe Gemeinde 350 hochaktive Mitglieder, darunter viele Familien, die aus der ehemaligen UdSSR nach Gelsenkirchen gekommen sind.

Reges Gemeindeleben und starke Willkommenskultur

Die Gemeinde kümmert sich um zwei Friedhöfe, den alten jüdischen Betsaal, sie beschäftigt einen eigenen Rabbiner, hat einen Gemeindechor, eine Theatergruppe, mehrere Seniorengruppen und eine Junge-Eltern-Gruppe, mehrere Kinder- und Jugendgruppen und bietet regelmäßige Gebete und Religionsunterricht an. Es finden Hebräischkurse, Ausstellungen, Vorträge, Gedenk- und Kulturveranstaltungen und vieles mehr statt. Über dem Eingang steht: „Mein Haus ist ein Haus der Gebete für alle Völker“ aus Jesaja 56,7. Dieser Geist prägt die Gemeinde: Man möchte Einblicke in das jüdische Leben, die jüdische Religion und die reichhaltige jüdische Kultur geben. Gäste sind sind willkommen und erwünscht.