Gelsenkirchen. Das ABC der Natur wird Kindern hier vermittelt: Der Ziegenmichel ist ein besonderer Lernort in Gelsenkirchen und mehr als ein Erlebnisbauernhof.

Schön ist es hier. Als wäre Bullerbü in den Nordsternpark transferiert worden. Pferde schnauben in ihren Stallboxen, Gänsegeschnatter mischt sich mit dem Gemecker etlicher Ziegen, Sittiche tschilpen, Wasser rauscht, Blätter rascheln, zwei große, graue Hofhunde streichen ums Haus. Kurz blenden die Sinne sogar das Verkehrsdröhnen der nahen A 42 aus. Willkommen beim „Ziegenmichel“ in Heßler.

In Gelsenkirchen eine Bilderbuch-Idylle geschaffen

Streicheleinheit: Stefanie Tietze im Stall des Hauptgebäudes mit Ruta, einem der Hofpferde. Die gelernte Kauffrau managt als Betriebsleiterin die Arbeit des Gelsenkirchener Bildungsträgers.
Streicheleinheit: Stefanie Tietze im Stall des Hauptgebäudes mit Ruta, einem der Hofpferde. Die gelernte Kauffrau managt als Betriebsleiterin die Arbeit des Gelsenkirchener Bildungsträgers. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

Weiter geht es durch die Bilderbuchidylle: Die Wege flankieren dicht an dicht Zitronen und Orangenbäumchen, Petunien blühen, hier hängen Blumenampeln, dort machen sich noch Kräuter und herbstliche Stauden breit. Ein großer Teich wird mit dem Wasser von den Dachflächen gespeist. Aus all dem sprießenden Grün ragen ein paar Häuschen und eine Hofstelle, die auch literarischen Kinderträumen entsprungen sein könnten: Fachwerk, Backstein, satt getünchte Holzfassaden. Ein alter Hühnerstall wurde zum winzigen bäuerlichen Museum, bestückt mit allem, was sich einst auf solch einem Hof fand – vom Butterfass bis zur Sackkarre, vom Sattel bis zur Bettpfanne. Ein Stück weiter liegen das Wikinger-Langhaus und eine Mini-Burg malerisch eingebettet, im Steinzeithaus hängt noch schwer der Geruch von Feuer und Asche in der Luft.

Für große und kleine Stadtmenschen entwickelt der Ort gleich Zauber – Runterschalt-Modus rein, Seele baumeln lassen. „Es hat sich eine Art Wohlfühlcharakter entwickelt“, sagt Stefanie Tietze. Und der wird gehegt, gepflegt.

Die Vorläufer des Westermann-Hofs gehen bis ins Jahr 1332 zurück

Liebevoll wieder aufgebaut und eingerichtet: Ein altes Stallgebäude wurde zum kleinen Hof-Museum mit Gegenständen aus dem bäuerlichen Leben.
Liebevoll wieder aufgebaut und eingerichtet: Ein altes Stallgebäude wurde zum kleinen Hof-Museum mit Gegenständen aus dem bäuerlichen Leben. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

„Bäuerliches Leben ist hier seit 1332 dokumentiert“, sagt Michael Lorenz. Die vergangenen Jahrzehnte hat er auf dem ehemaligen Westermann-Hof maßgeblich dazu beigetragen, dass das so geblieben ist. Lorenz hat einst mit ein paar Ziegen angefangen, als er sein bürgerliches Leben neu justierte. Haus und Grund an der Eggemannstraße hat er erworben, wurde zum „Ziegenmichel“. Knapp 40 Hektar bewirtschaftet Landwirtin und Gärtnerin Sabine Müller als bäuerlichen Betrieb und Ort für Pensionspferde. Doch das ist nicht allein der Wesenskern des Gehöfts, der als Erlebnisbauernhof späte Karriere macht und seit 2005 vom gleichnamigen Verein getragen wird: Der Ziegenmichel versteht sich als integrativ arbeitende, außerschulische Bildungseinrichtung, als Ankerpunkt für Umwelt, Bildung, Integration und Regionalentwicklung. Oder wie es Stefanie Tietze, hier die Frau fürs Organisatorische formuliert: „Wir haben den Anspruch, dass der Ziegenmichel gestern, heute und morgen verlässlicher Partner für die Kinder ist.“

Früchte von Streuobstwiesen werden mit Kindern gemostet

Dazu gehören die Erlebniswelten von Steinzeit bis Mittelalter, Knochenschnitzen, Kochen oder Turnierkampf inklusive. Dazu zählen die Färbergärten, in denen die Pflanzen wachsen, die nach Mörsern, Pressen, Einkochen und Beimischen bunte Stoffe liefern. Dazu zählen pädagogisch angeleitetes Reiten, zig Workshops von der Kerzenwerkstatt bis zum Mosten der Früchte von umliegenden Streuobstwiesen. Eben weitgehend unverstellte und direkte Natur-Erlebnisse für Mädchen und Jungen ab dem Kita-Alter, mit ganzen Schulklassen, mit Flüchtlingskindern.

Urige Erlebniswelten garantiert: Von Steinzeit bis Mittelalter reicht das Spektrum, zu dem es - spielerisch – die passenden Elemente und auch Hütten auf dem Hof gibt.
Urige Erlebniswelten garantiert: Von Steinzeit bis Mittelalter reicht das Spektrum, zu dem es - spielerisch – die passenden Elemente und auch Hütten auf dem Hof gibt. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

Die Berührung mit der Natur, sie hat oft ihre Tücken und ist in vielen Familien längst kein selbstverständlicher Prozess mehr. „Es ist schon so, dass viele Kinder selbst einen Regenwurm nicht mehr wahrnehmen“, sagt Tietze. Wasserproben im Teich zu untersuchen, darin nach tierischem Leben zu forschen, zählt da schon zu den höheren Weihen der Naturbeobachtung.

Ziegenmichel-Konzept auf den Revierpark Nienhausen und zwei Cafés ausgedehnt

Längst hat der Ziegenmichel seinen Radius erweitert, sein pädagogisches Konzept und seine Ideen auch an anderen Stellen in der Stadt eingebracht. Im Kinderland im Nordsternpark, vor allem aber an der Kinderburg im Revierpark sind weitere Spiel- Lern- und Erlebnisorte entstanden. An der Feldmarkstraße in Nienhausen wachsen in Ergänzung zu den angelegten Demenzgärten die „essbaren Gärten“.

Ziegen dürfen auf dem Erlebnisbauernhof in Heßler natürlich nicht fehlen
Ziegen dürfen auf dem Erlebnisbauernhof in Heßler natürlich nicht fehlen © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

Selber pflücken und naschen ist hier ausdrückliche erlaubt. Das Freizeitangebot wurde dort deutlich erweitert, zudem wird das Cafe´ bewirtschaftet. Gastronomisch hat sich der Ziegenmichel längst breit aufgestellt. In Bulmke-Hüllen und Rotthausen betreibt der Verein die Cafés „Zeitblick“ und „Neuzeit“ in einem Gemeindehaus und einem Seniorenheim mit sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen für Menschen mit Beeinträchtigungen. Im Parkservice und den Gärten werden auch Kräfte über das Jobcenter einsetzt, die Flächen pflegen, Wege schottern oder Hecken schneiden. „Rund 50 Menschen arbeiten für den Ziegenmichel“, sagt Tietze, aktuell zehn davon sind Menschen mit Behinderung.“ Aus dem Ziegenmichel ist längst ein großer Betrieb geworden.

Michael Lorenz: Die Arbeit mit Kindern ist „unsere Baustelle“

Mit einer ganz besonderen Würdigung ihrer Arbeit kehrten Michael Lorenz und Stefanie Tietze Ende 2017 aus Berlin zurück: Der Ziegenmichel wurde von der deutschen Unesco-Kommission und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung als offizieller Lernort ausgezeichnet.

Global zu denken, lokal zu handeln – der Ansatz treibt Lorenz von jeher an. Und er hat erkannt: „Bildung ist dabei der Schlüssel zum Erfolg.“ An dieser Sichtweise hat sich auch in den vergangenen anderthalb Corona-Jahren nichts geändert. Doch der Lockdown hat den Ziegenmichel getroffen. Über Monate war der Betrieb 2021 komplett dicht. Die Belegschaft kam ohne Kurzarbeit über die Runden. Aber der Ausfall an Kursen und Workshops, eben an Kundschaft hat Blessuren hinterlassen, die den Trägerverein länger beschäftigen werden.

Corona-Lockdown und die Pandemiezeit trafen den Ziegenmichel hart

„Corona hat uns ein Stück weit demütiger gemacht, sagt Michael Lorenz. Die Pandemiezeit habe dazu beigetragen, über das eigene Tun nachzudenken
„Corona hat uns ein Stück weit demütiger gemacht, sagt Michael Lorenz. Die Pandemiezeit habe dazu beigetragen, über das eigene Tun nachzudenken © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

Die Pandemiezeit, sagt Michael Lorenz habe auch dazu geführt, sich noch einmal Gedanken über das eigene Tun zu machen. „Corona hat uns ein Stück weit demütiger gemacht.“ Wichtig sei zu sehen, „was wir schon alles haben und bewahren wollen. Und nicht zu gucken, was wir alles noch haben wollen.“

Der Gedanke steht dafür, was den Ziegenmichel antreibt. Als Person, als Bildungs-Institution: nämlich Nachhaltigkeit. „Was ist uns gegeben, was beschäftigt uns? Können wir in dem, was wir tun zufrieden und verlässlich sein?“, fragt Lorenz und liefert darauf gleich die Antwort: „Wir können Projekte neu denken und Situationen schaffen, die für alle größeren Mehrwert ergeben. Dazu muss man sich nicht immer neu erfinden.“ Die Zielgruppe ist klar: „Wir beschäftigen uns mit Kindern. Das ist unsere Baustelle. Wir versuchen, dass die Kleinen groß werden können in einer Welt, die nicht schlechter ist als wir sie angetroffen haben.“