Gelsenkirchen. . Kaum noch ein jüdisches Kind traut sich in Gelsenkirchen öffentlich eine „Kippa“ zu tragen. Zu groß ist die Sorge davor, beschimpft zu werden

  • Jüdische Schüler werden in Gelsenkirchen häufig beschimpft, wenn sie ihre Religion offen ausleben
  • Kaum ein Kind trägt daher noch öffentlich die traditionelle Kopfbedeckung „Kippa“
  • Judith Neuwald-Tasbach von der Jüdischen Gemeinde wünscht sich mehr Toleranz – auch von muslimischen Mitbürgern

Die Zahl der antisemitischen Straftaten ist 2017 deutschlandweit angestiegen. Und auch bei den Gelsenkirchenern mit jüdischem Glauben wachse die Sorge vor Übergriffen, erzählt Judith Neuwald-Tasbach, die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, auf WAZ-Nachfrage.

„Vor allem die Kinder unserer Gemeinde erleben fast täglich Anfeindungen, die sich auf ihre Religion beziehen. Der Ausruf ,Du Jude!’ wird auf Schulhöfen inzwischen als Schimpfwort benutzt, um andere Kinder zu beleidigen“, sagt Neuwald-Tasbach.

„Antisemitismus ist wieder salonfähig geworden“

Die jüdische Kopfbedeckung Kippa gibt es in vielen Farben mit diversen Motiven.
Die jüdische Kopfbedeckung Kippa gibt es in vielen Farben mit diversen Motiven. © Ulrich von Born

„In unseren Jugendgruppen sind derartige Anfeindungen oft Thema, vor allem, weil die Kinder nicht verstehen, warum es etwas Schlimmes sein soll, ein Jude zu sein. Keines der Kinder aus unserer Gemeinde trägt in der Öffentlichkeit noch eine Kippa, die meisten lassen sie ganz zu Hause, die Kinder aus orthodoxen Familien verbergen sie unter Mützen oder Baseball-Kappen“, hat Judith Neuwald-Tasbach beobachtet.

„Dabei raten wir den Kindern, offen zu ihrem Glauben und zu ihrer Religion zu stehen. Wir als Gemeinde bieten auch an, in Konfliktsituationen mit Lehrern und Mitschülern zu sprechen. Bildung ist der beste Weg, um Vorurteilen vorzubeugen oder sie abzubauen, deshalb sollte man schon im Kindergarten entsprechende Bildungsangebote machen“, so die Gemeindevorsitzende, die schon seit ein paar Jahren einen Anstieg der antisemitischen Äußerungen verzeichnet: „Zum Glück hat es hier in Gelsenkirchen meines Wissens noch keine körperlichen Übergriffe auf Menschen jüdischen Glaubens gegeben. Aber seit es Pegida und die AfD gibt, ist der Ton rauer geworden. Jetzt trauen sich einfach wieder mehr Leute, antijüdische Bemerkungen öffentlich zu machen, die es vorher nicht getan haben.“

Die Zahl der Straftaten ist kaum gestiegen

Die Gelsenkirchener Polizei verzeichnete im ersten Halbjahr 2017 vier antisemitische Straftaten, darunter eine Volksverhetzung und eine Beleidigung. Das sei im Vergleich zum Vorjahr ein Anstieg von einer Straftat, so die Polizei, die allerdings nur die Taten registriert, die angezeigt werden. Die antisemitischen Anfeindungen seien nicht unbedingt rechtsradikal motiviert, erklärt Judith Neuwald-Tasbach: „Auch für viele Muslime ist der jüdische Glauben etwas Negatives, das bekommen die Kinder zu Hause schon früh vermittelt.“ Sie habe bereits erlebt, dass muslimische Kinder sich bei Schulführungen geweigert hätten, die Synagoge an der Georgstraße zu betreten. „Es ist einfach schwer, gegen solche Vorurteile anzukommen“, sagt die Jüdin.

Und so kommt es, dass viele jüdische Gelsenkirchener die kleine „Mesusa“-Kapsel, deren Inhalt die Bewohner eines Hauses unter göttlichen Schutz stellen soll, von ihren Hauswänden abmontiert haben. Sie möchten nicht als Juden erkannt werden.

Die Hoffnung auf friedliches Zusammenleben

Judith Neuwald-Tasbach ist Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Gelsenkirchen. Auf dem Schwarz-Weiß-Bild links an der Wand ist ihr verstorbener Vater Kurt Neuwald zu sehen.
Judith Neuwald-Tasbach ist Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Gelsenkirchen. Auf dem Schwarz-Weiß-Bild links an der Wand ist ihr verstorbener Vater Kurt Neuwald zu sehen. © Martin Möller

„Mein Vater (Kurt Neuwald) würde sich angesichts dieser Entwicklung im Grabe umdrehen. Er ist damals extra hier her zurück gekehrt, weil er dachte, nach dem Holocaust wird es in Deutschland nie wieder derartige antisemitische Tendenzen geben“, sagt Judith Neuwald-Tasbach. „Er hat sich wohl geirrt“, fügt sie leise hinzu.

>>Info: Kurt Neuwald war 1945 aus einem Außenlager des KZ Buchenwald befreit worden. Er kam zurück nach Gelsenkirchen, wo er die Jüdische Gemeinde aufbaute, deren Vorsitz er dann lange übernahm. Zudem war Neuwald Gründungsmitglied des Zentralrates der Juden in Deutschland.

2014 gab es zwei Anschläge auf die Neue Synagoge an der Georgstraße: Im Mai sprühten unbekannte Täter ein Hakenkreuz an die Wand, im Juli wurde nachts ein Gullideckel durch ein Fenster geworfen. Seither wurden keine Straftaten dieser Art mehr in Polizeiberichten vermerkt. Die Synagoge wird täglich von einer Polizeistreife bewacht.