Gelsenkirchen-Altstadt. Nathanel Pretzel ist neuer Vorbeter der jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen. Vor vier Wochen hält er erstmals den Gottesdienst ab: ein Blind-Date.

„Das war Liebe auf den ersten Blick“, sagt Judith Neuwald-Tasbach und lacht beim Gedanken an ein besonderes Blind-Date, das erst ein paar Wochen zurückliegt: Als der Fortgang des Rabbi Kornblum ansteht, erinnert sich die Vorsitzende der jüdischen Gemeinde an ein Anschreiben eines jungen Vorbeters, der eine neue Aufgabe sucht. Kurzerhand verpflichtet sie Nathanel Pretzel.

Der Vorbeter interpretiert manch ein gesungenes Gebet „vielleicht etwas moderner“

Vor vier Wochen leitet er, ohne vorher zum „Beschnuppern“ an die Georgstraße gekommen zu sein, seinen ersten Gottesdienst an der neuen Wirkungsstätte. „Mit großer Nervosität auf allen Seiten.“ Seither wehe ein leichter, frischer Wind durch die Gemeinde. Der junge Mann nämlich interpretiert manch ein gesungenes Gebet „vielleicht etwas moderner“, wie er sagt. Die Texte stehen traditionell fest, die Melodien lassen Interpretationsraum. „Die Intonation sollte sich anpassen an die Gemeinde“, erzählt Nathanel Pretzel. „Zu 95 Prozent sind wir auf dem gleichen Nenner.“ An hohen Feiertagen setze er auf Tradition, an „normalen“ Schabbat-Tagen gehe es schon mal etwas leichter zu. Schon jetzt mit Folgen: „Seither kommen mehr Jugendliche in den Gottesdienst“, freut sich Judith Neuwald-Tasbach.

Der 31-Jährige hat auch einen weltlichen Beruf. Er ist gelernter Goldschmied

Die Thorarollen der Gelsenkirchener Gemeinde. Die handgeschriebene Rollen aus Pergament mit dem unpunktierten hebräischen Text enthalten die fünf Bücher Mose.
Die Thorarollen der Gelsenkirchener Gemeinde. Die handgeschriebene Rollen aus Pergament mit dem unpunktierten hebräischen Text enthalten die fünf Bücher Mose. © FUNKE Foto Services | Oliver Mengedoht

Für Nathanel Pretzel steht schon früh im Leben fest, die Religion soll einen wichtigen Platz einnehmen. „Dadurch, dass mein Onkel in einer Münchner Synagoge engagiert war, habe ich mit 14 Jahren für einen Monat immer am Schabbat aus der Thora gelesen. Das hat mir großen Spaß gemacht.“ Der Grundstein ist gelegt. Ein Jahr in Israel an einer „Jeshiva“, einer Hochschule für jüdische Religion, rundet später die Ausbildung ab. Eine solche sei aber streng genommen gar nicht notwendig. „Vorbeter kann jeder sein, der hebräisch kann und über Bar Mizwa ist.“ Das bezeichnet im Judentum die Mündigkeit. Ein Vorbeter ist kein Rabbi, darf aber eine ganze Menge – Paare trauen, Begräbnisse begleiten. Demnächst, wenn die Coronalage es wieder zulässt, soll auch Bar Mizwa-Unterricht folgen.

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Nathanel Pretzel, das spürt man sogleich, lebt für seine Berufung. Und doch hat der 31-Jährige auch einen weltlichen Beruf. Er ist gelernter Goldschmied, fertigt selbst Schmuckstücke an, vereint Handwerk und Kreativität. „Das Judentum begleitet mich durch den Tag. Aber ein weltlicher Beruf steht dazu nicht im Gegensatz.“ Sogar dann nicht, wenn sich der junge Vorbeter doch noch entscheidet, Rabbi zu werden. Das sei durchaus noch eine Option. „Diese beiden Tätigkeiten lassen sich miteinander vereinbaren.“

Verunsichern kann ihn das Geschehen rund um die Gelsenkirchener Synagoge kaum

Nach Stationen in München und Wien ist Nathanel Pretzel ganz sicher, in Gelsenkirchen sicher zu sein. „Das ist die richtige Entscheidung“, sagt er – auch kurz nach den aktuellen Ereignissen, den antisemitischen Parolen.

Hoher Festtag der jüdischen Gemeinde

Die aktuellen Ereignisse und die antisemitischen Proteste überschatten ein hohes Fest der jüdischen Gemeinde. Sie begeht in diesen Tagen „Schawuot“. Damit feiert man die Gesetzgebung am Berg Sinai. Nach der talmudischen Überlieferung ist Schawuot die Zeit der Verkündung der zehn Gebote am Berg Sinai, des ersten umfassend formulierten Sittengesetzes in der Geschichte der Menschheit.Es hat auch eine zweite Bedeutung: In der biblischen Zeit war Schawuot nur das „Fest der Erstlinge“ und es wurden an diesem Tag im Jerusalemer Tempel zwei Weizenbrote geopfert, die aus dem Mehl der neuen Ernte hergestellt worden waren. Auch die Erstlinge anderer landwirtschaftlicher Produkte durften erst von Schawuot an als Opfer dargebracht werden.

„In meiner Zeit in Wien wären wir angesichts solcher Ausschreitungen wenig beängstigt gewesen“, berichtet er, dass man dort ungleich Schlimmeres erlebt habe. Verunsichern könne ihn das Geschehene also nicht. „Ich fühle mich hier in Gelsenkirchen seit der ersten Woche sehr wohl.“ Und so wohnt in den Augen aller diesem Anfang ein Zauber inne, das betont auch Judith Neuwald-Tasbach, die gleich noch einmal ins Schwärmen kommt. „Eine innere Hinwendung ist sehr wichtig für diese Aufgabe. Die spürt man bei Nathanel Pretzel sofort.“