Gelsenkirchen. Wohnraum, Glas, Kohle und Nahrung waren Mangelware, der erste Kulturhunger konnte schon gestillt werden. Szenen aus Gelsenkirchen Ende 1945.

Der schwerste Jahreswechsel seit Kriegsende: So klagt mancher über die in der Tat bedrückende Pandemiezeit. Aber wie war die Situation eigentlich wirklich am Jahresende 1945 in Gelsenkirchen? Die WAZ ist in die vom Institut für Stadtgeschichte ins Internet gestellte Chronik eingetaucht, um einige Schlaglichter auf jene Tage zu werfen.

Nächtliche Ausgangssperre für Silvester aufgehoben

Eine gute Nachricht für die Bürger Ende 1945 war: Zu Weihnachten und Silvester wurden nächtliche Ausgangsbeschränkungen aufgehoben. Es gab erste Konzerte - Bachs Weihnachtsoratorium in der Ückendorfer Kirche, ein weihnachtliches Konzert in der Schauburg mit dem Konzertverein, ein Posaunenchor-Konzert zum Jahreswechsel: Sie alle waren gut besucht.

168 Theatervorstellungen fast ausgebucht

Die Gelsenkirchener froren bitterlich und hungerten - und sie hungerten auch nach Kultur. Im August hatte das Theater an der Bochumer Straße eröffnet, die 168 Vorstellungen bis Jahresende waren zu 90 Prozent ausgebucht. Und auch die Polizei organisierte sich bereits neu: die erste Polizeischule im Regierungsbezirk Münster hatte im Dezember im Gelsenkirchen eröffnet.

94 Prozent der Holzzuteilung für Bergmannsfamilien

Das war es allerdings auch schon mit guten Nachrichten, abgesehen freilich von den immer noch nach und nach eintreffenden Kriegsheimkehrern. Wer ein Dach über dem Kopf hatte, konnte sich glücklich schätzen. Wer dazu noch Glas in den Fenstern hatte, war privilegiert. Holz oder Kohle zum Heizen und Befeuern des Kochherdes war vor allem für die Bergmannsfamilien reserviert. "Zivilbürger" bekamen nur sechs Prozent der vorhandenen Holzmenge zugewiesen, 94 Prozent ging an die Bergleute, die die Kohleförderung und damit die Wirtschaft ankurbeln sollten. Im Wald selbst für Ersatz sorgen wie die Landbevölkerung in anderen Regionen konnten die Gelsenkirchener nicht.

Delog produzierte 15.000 Quadratmeter Glas am Tag

Eigentlich hätte es gerade in Gelsenkirchen genug Glas geben müssen, um die Fenster abzudichten. Die Delog in Rotthausen produzierte seit Mitte Dezember 15.000 Quadratmeter Glas täglich, 450.000 Quadratmeter im Monat. Doch auch das Glas wurde vorwiegend für Bergarbeiterwohnungen genutzt. Und der Bedarf in der Region war immens: 70 Millionen Quadratmeter fehlten in der amerikanischen und britischen Zone.

Sturm am Jahresende deckt erneut die Dächer ab

Und als wäre die Not nicht groß genug, deckte ein heftiger Sturm, der über der Stadt wütete, am 28. Dezember viele soeben notdürftig abgedichtete Dächer wieder ab, drückte neu eingesetzte Glasscheiben, für deren Befestigung es keinen Kitt gegeben hatte, wieder aus den Rahmen. Die Böen waren so stark, dass gar einige bombengeschädigte Mauern von Wohnhäusern eingedrückt wurden. Bewohner wurden dabei verschüttet, vier Menschen starben.

Kein Koks für Senioren im Altenheim - Voll angekleidet im Bett

Groß war die Not auch im Altenheim an der Schonnebecker Straße. 14 Tage lang hatte es hier keinen Koks zum Heizen gegeben. 80 Senioren und Kranke lagen den ganzen Tag voll angekleidet in ihren Betten, viele erkrankten dadurch schwer.

Eigentlich hatte die Stadtverwaltung für ausgebombte Familien und solche ohne Heizmöglichkeit 50.000 einfache Kanonenöfen mit je drei Metern Ofenrohr geordert, auf denen auch gekocht werden könnte. Doch zunächst kamen nur 21.000 Meter Ofenrohre an - ein Drama.

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Insgesamt 21.200 Wohnungen hatte das Amt Ausgebombten, Flüchtlingen, Zugezogenen und vor allem Bergarbeitern bis zum Jahresende zugewiesen. 2000 Anträge blieben unbearbeitet bis zum Neuen Jahr. Von den 3700 neu fertiggestellten Wohnungen gingen 2000 an Bergarbeiter. Bevorzugt bei der Zuweisung wurden zudem Handwerker, Eisenbahner, ehemalige Zwangsarbeiter, Juden und kinderreiche Familien.

Gesprengte Brücke blockiert Zufahrt zum Stadthafen

Zum Jahresende war auch die Zufahrt zum Stadthafen endlich wieder frei. Eine gesprengte Brücke hatte die Einfahrt blockiert. Die Trümmer konnten zwar nicht komplett beseitigt werden, stattdessen wurde ein 18 Meter breites Stück herausgeschnitten, um die Versorgung mit Nachschub über den Kanal zu sichern.

Jedes fünfte Baby starb im ersten Lebensjahr

Die Standesamtstatistik zu Geburten und Todesfällen 1945 ist niederschmetternd, vor allem im Bereich der Säuglingssterblichkeit. Jedes fünfte Baby überlebte das erste Jahr nicht. In Buer waren die Krankenhäuser zwar noch arbeitsfähig, dennoch war die Gesamtlage wohl zu schlecht. Die Einwohnerzahl war von den 340.000 beim Zusammenschluss von Buer, Horst und Gelsenkirchen 1928 auf 235.895 Ende 1945 gesunken.

Verwaltungsmitarbeiter und Lehrer als "nicht tragbar" aus dem Dienst genommen

Die Namen von 275 Beamten, Angestellten und Arbeiter der Stadtverwaltung, die als "nicht tragbar" aus dem Dienst genommen wurden, standen in den amtlichen Bekanntmachungen. Gleiches galt für 162 Lehrer, die "aus politischen Gründen, Mitgliedschaft NSDAP," suspendiert wurden. Von 75 Volksschulen in der Stadt bei Kriegsbeginn hatten Ende 1945 19 den Betrieb wieder aufgenommen. 399 (in 1939 waren es 928) Volksschullehrer unterrichteten wieder. Auch die Zahl der Kinder in Volksschulen war drastisch gesunken: von fast 40.000 auf 17.800.

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