Gelsenkirchen-Altstadt. Aufschwung in Gelsenkirchen durch Bekleidung: Zeuge Werner Falk und Historikerin Brigitte Schneider über die fünfte Wirtschaftssäule der Stadt.
Wer auf dem Bahnhofsvorplatz seinen Blick in Richtung Bahnhofstraße nach oben schweifen lässt, entdeckt schnell ein kunstvolles Fenster. Das farbenfrohe Glasmosaik an der Vorderseite des ehemaligen Modehauses Boecker erinnert an vergangene, goldene Zeiten. 1950 erstellte es der Künstler Franz Marten. Darauf abgebildet sind die fünf bedeutenden Säulen der Industrie Gelsenkirchens. Eine tragende Rolle dabei hatte die Bekleidungsindustrie.
„Leider wird die fünfte Wirtschaftssäule oft vergessen“, sagt Werner Falk. Damit meint der 86-Jährige den Wirtschaftszweig Bekleidung, in dem er selbst viele Jahre tätig war. „Gelsenkirchen war einst der größte regionale Standort der Bekleidungsindustrie im Ruhrgebiet“, sagt auch die stellvertretende Leiterin der Volkshochschule Brigitte Schneider. Die Historikerin hat sich lange Zeit mit der Bekleidungsgeschichte Gelsenkirchens auseinandergesetzt. Im Gespräch mit der WAZ erinnern die beiden an den Aufschwung (Teil 1) und den Niedergang (Teil 2) der Bekleidungsindustrie der Ruhrgebietsstadt.
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Die geschilderte Reise geht zunächst zurück in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als der Bedarf an Bekleidung in Westdeutschland groß war. Die Versorgung durch die Ostgebiete brach nach der deutschen Teilung weg. Der riesige Absatzmarkt, aus dem Osten geflüchtete Bekleidungsunternehmer und die billigen Arbeitskräfte, sorgten für die zunehmende Verlagerung der Bekleidungsproduktion ins Ruhrgebiet. Friedrich Wendenburg, damals bei der Gelsenkirchener Wirtschaftsförderung, der viele Kontakte in der Bekleidungsindustrie hatte, setzte sich maßgeblich für die Produktion in Gelsenkirchen ein – mit Erfolg.
Nähmaschinen ratterten fortan hier in vielen kleinen und mittelständigen Betrieben – schwerpunktmäßig an der Dickampstraße im Süden und am Nordring in Buer. Nach eigenen Berechnungen waren laut Schneider in den 1950er Jahren 5000 und in den 1960er Jahren 7500 Menschen in den Gelsenkirchener Kleiderfabriken tätig. Mehr als 90 Prozent der Mitarbeiter waren weiblich.
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Für den Zeitzeugen Falk mit ein Grund, warum der Branche bis heute wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Als gelernter Werkzeugmacher nahm er im September 1970 bei der Wilken GmbH einen Job als Handwerker an. Zwei Jahre später übernahm er bis 1984 in dem Bekleidungsunternehmen den Posten als Betriebsratsvorsitzender. Bei der Gewerkschaft „Textil und Bekleidung“ war er schließlich nach beruflichen Stationen in Hannover und Bremen als Gewerkschaftssekretär bis zur Rente 1997 in Gelsenkirchen tätig.
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Wichtig ist, festzuhalten: In Gelsenkirchen wurden keine Stoffe hergestellt, sondern die Fabriken produzierten lediglich Damenoberbekleidung oder Herren- und Knabenbekleidung. Marcona, Classic Kemper, Kostüme Schulze und Gelco machten sich in der Gelsenkirchener Bekleidungsindustrie einen Namen. Falk zufolge beschäftigte die mittelständige Bekleidungsfirma Wilken GmbH, die bis 1987 existierte, zu Hochzeiten 620 Mitarbeiter.
Drei Zentren spielten vor dem Krieg zentrale Rolle
Vor dem Krieg trug die ostdeutsche Bekleidungsindustrie laut Landschaftsverband Westfalen Lippe maßgeblich auch zur Versorgung Westdeutschlands bei. Drei Zentren spielten demnach dabei eine besondere Rolle: Berlin, Breslau und Stettin.
Berlin hatte – typisch für viele Hauptstädte – in fast allen Zweigen der Herstellung konfektionierter Kleidung laut LWL eine führende Stellung und in der Fabrikation von Damenoberbekleidung nahezu ein Monopol. Bis 1939 lag der Umsatzanteil bei 85 Prozent.
Über die Arbeitsbedingungen und Zeit des Niedergangs der Bekleidungsindustrie informiert ein zweiter Artikel.
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Bis etwa 1965 boomte der Bekleidungsmarkt. In den unmittelbaren Nachkriegsjahren fanden Modemessen für ein Fachpublikum im Hans-Sachs-Haus statt. In den 1970er Jahren zeigte man die Mode der Öffentlichkeit auf der hochfrequentierten Bahnhofstraße. „Es gab sogar mal Überlegungen, mit der Modestadt Düsseldorf zu konkurrieren, doch dann konzentrierte man sich doch lieber auf praktische und preiswerte Gebrauchskleidung für Damen und Herren“, erzählt Schneider.
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Mit einem Zeitsprung in die 1980er Jahre erinnert die Historikerin daran, dass sogar der legendäre Modeschöpfer Karl Lagerfeld zwei, drei Jahre teurere Bekleidung für junge Frauen in Gelsenkirchen produzieren ließ. Ein Ritterschlag. Paris meets Gelsenkirchen. Beliefert wurden die großen Kaufhäuser in Westdeutschland oder auch Versandhäuser.
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