Gelsenkirchen.. Man mag es heute gar nicht mehr glauben, aber Gelsenkirchen war einst eine Hauptstadt der Avantgardemode.
Man mag es heute gar nicht mehr glauben, aber Gelsenkirchen war einst eine Hauptstadt der Avantgardemode. Ein Blick auf das ehemalige Bahnhofsfenster, das heute am Fuße der Bahnhofstraße zu sehen ist, offenbart: Die Bekleidungsbranche in der Stadt war einmal eine der fünf tragenden Säulen der lokalen Wirtschaft. Der steile Aufstieg begann in den 1950er und 1960er Jahren: Vor dem Zweiten Weltkrieg wurde Bekleidung für den deutschen Markt vor allem in Ostdeutschland gefertigt, doch nach der Teilung Deutschlands gab es plötzlich keinen Nachschub mehr – der Bedarf nach modischer und moderner Kleidung wuchs in den Wirtschaftswunderjahren jedoch rasant.
Ballkleid aus Mantelfutter genäht
„Wir hatten ja zunächst Nichts nach dem Krieg“, erinnert sich Ursel Tolksdorf, die während der Kriegsjahre eine Schneiderlehre absolvierte: „Ich weiß noch, wie ich mir mein Abschlussballkleid aus dem Satinfutter eines Mantels meiner Tante genäht habe“, erzählt sie. Das Nähen wurde später zu ihrem Beruf. „Eigentlich wollte ich ja Lehrerin werden, aber da während des Krieges alle Schulen geschlossen waren, gab es nicht viele Alternativen. Und so wurde ich Schneiderin“, erklärt die 88-Jährige.
Diese Ausbildung kam der gebürtigen Bismarckerin nach dem Krieg zu Gute: „Ich habe in ganz verschiedenen Bekleidungsunternehmen gearbeitet, es gab ja hier genug“, blickt sie lachend zurück. Der damalige Leiter des Amtes für Wirtschaftsförderung, Dr. Fritz Wendenburg, machte es sich zur Aufgabe, frühere Breslauer Bekleidungsunternehmen in „seiner Stadt“ anzusiedeln, erinnert sich Tolksdorf.
50 Unternehmen boten Arbeit für über 6000 Beschäftigte
So boten 50 Unternehmen, wie etwa die Kemper KG, Nienhaus & Luig, Marcona, Harald Feigenhauer, Hugo Kogge, Napieralla & Söhne, Schreck und Witschel&Markmann Anfang der 1950er Jahre schon bald Arbeit für über 6000 Beschäftigte. „Das waren alles Frauen, die hier die Wirtschaft wieder aufgebaut haben, während viele der Männer noch in Kriegsgefangenschaft waren“, sagt Ursel Tolksdorf, die zunächst bei dem buerschen Unternehmen Witschel und Markmann arbeitete. „Später habe ich auch für Richter und Nienhaus gearbeitet, war dort sogar Geschäftsführerin“, berichtet die Gelsenkirchenerin, die mit Ende 40 auf Anraten ihrer Arbeitgeber eine Modeschule in Düsseldorf besuchte. „Dort haben wir gelernt, wie man diese modernen Schnitte schneller fertigt“, sagt sie. Die Modeindustrie in Gelsenkirchen habe sich immer stärker an der amerikanischen Mode und ihrer Produktion orientiert: „Hier gab es bald ganze Säle voller Näherinnen“, so Tolksdorf. Bisweilen galt die Kemper KG gar als eines der modernsten Bekleidungswerke der deutschen Textilwirtschaft. „Das war schon eine tolle Zeit hier“, betont Ursel Tolksdorf.
Immer mehr funktionale Arbeitskleidung, aber auch schicke Mäntel, Krawatten und Damenkostüme wurde gegen Ende der 1950er Jahre produziert – der steigende Arbeitsdruck rief die Gewerkschaften auf den Plan. „Damals war es üblich, Überstunden zu machen, wenn eine Modelinie noch schnell fertig werden musste“, sagt Ursel Tolksdorf.
Die Produktion wurde verlagert
„Mit der Etablierung der Gewerkschaften gab es mehr Rechte, jedoch wurden dann die Produktionskosten zu hoch. Deshalb wurde die Produktion nach und nach in Richtung Polen und Spanien verlagert“, erinnert sich Ursel Tolksdorf.
1958 berichtete die Westfälische Rundschau erstmals von Kurzarbeit, die sich in den Gelsenkirchener Textilunternehmen breit machte. Fünf Unternehmen mussten damals schon ihre Werkstore schließen und zahlreiche Mitarbeiter entlassen. Anfang der 1970er Jahre fielen der Ölkrise und der dadurch fast unbezahlbar gewordenen Kunstfaserstoffe weitere Unternehmen zum Opfer. Auch Ursel Tolksdorf stieg aus der Textilbranche aus und verwirklichte ihren eigentlichen Berufswunsch, wurde Lehrerin: „Die letzten zehn Jahre vor meiner Pensionierung habe ich beim Evangelischen Kirchenkreis Nähkurse gegeben“, blickt sie zurück: „So konnte ich dann im Laufe der Jahre hunderten von Gelsenkirchenerinnen vermitteln, wie viel Spaß Nähen macht“, sagt sie lachend.