Essen. Mehr als jeder zweite Pflegebedürftige wird in Essen zu Hause versorgt. Doch 90 Prozent der staatlichen Unterstützungsleistungen werden aus Mangel an Beratung nicht in Anspruch genommen.

Rund 18.700 Menschen in Essen sind pflegebedürftig. Davon werden etwa 11.900 und damit über 60 Prozent von ihren Angehörigen zu Hause versorgt. Was diese Angehörigen leisten, ist volkswirtschaftlich kaum in Zahlen zu fassen. Doch vor allem physisch und psychisch zehrt diese Leistung an den Kräften, wie eine aktuelle Studie der Techniker Krankenkasse (TK) belegt. Jeder dritte Befragte in NRW ist überzeugt, dass die Pflegetätigkeit seine Gesundheit angreift. Viele fühlen sich durch die Pflege der Angehörigen zudem in ihrer Lebensplanung eingeschränkt.

„Wenn ein Angehöriger pflegebedürftig wird, stellt das das Leben der Familie vom Kopf auf die Füße“, weiß auch Dirk Brieskorn von der Familien- und Krankenpflege e.V. Essen. Das Schwierigste an der Situation sei, dass man den Verlauf und das Ende der Pflege nicht einschätzen kann, erklärt der Geschäftsführer. „Bei sechs Monaten können sich die Verwandten abwechseln und sich die Kräfte einteilen. Doch gerade bei Demenzkranken kann es sich um einen Pflegezeitraum von 10 bis 15 Jahren handeln“, sagt Brieskorn. Damit sei für die Pflegenden plötzlich komplett offen, was mit dem Rest ihres Lebens passiert. „Für viele der Angehörigen ist diese Belastung so groß, dass sie sich vom Arzt Psychopharmaka verschreiben lassen“, weiß Dirk Brieskorn.

„Der soziale Kitt bröckelt“

Laut TK-Studie sind Pflichtgefühl und Familienzusammenhalt die wichtigsten Gründe für die Entscheidung, einen Angehörigen zu pflegen. „Es zeigt jedoch auch, dass dieser soziale Kitt zunehmend bröckelt“, sagt Günter van Aalst, Leiter der TK-Landesvertretung NRW. Familiärer Zusammenhalt spielt umso weniger eine Rolle, je jünger die Befragten sind. Während dies bei den über 65-Jährigen insgesamt 61 Prozent als Hauptgrund angeben, sind es bei den 18- bis 49-Jährigen nur noch 38 Prozent. „Das Pflegepotenzial von Familien wird kleiner“, betont van Aalst. „Erwerbstätigkeit hat für die jüngeren Generationen einen höheren Stellenwert. Pflege in Vollzeit zu Hause wird so künftig kaum mehr möglich sein.“

Kein Grund, die Angehörigen aus ihren vier Wänden zu nehmen, meint Dirk Brieskorn von der Familien- und Krankenpflege. „Es gibt für Angehörige zahlreiche Angebote, sich bei der Pflege unterstützen zu lassen“, so Brieskorn. Eigentlich sogar ein Überangebot. Denn 90 Prozent der sogenannten „Verhinderungspflege“, bei der Angehörige zur Entlastung von ihrer Pflegeversicherung zeitweise eine „Ersatz-Pflegeperson“ bezahlt bekommen, würden nicht genutzt.

Im Januar 2015 wird das erste Pflegestärkungsgesetz in Kraft treten, bei dem Angehörige in ihrer konkreten Situation besser entlastet werden sollen. Unterstützungsleistungen wie Kurzzeit-, Verhinderungs- und Tages- und Nachtpflege sollen ausgebaut und besser miteinander kombiniert werden können. Von der Tendenz her sei das Gesetz im Sinne der Angehörigen, sagt Dirk Brieskorn. Ob das Geld aber letztlich bei ihnen ankommt, sei eine andere Frage. Zwar werden die Leistungen für die häusliche Pflege damit um rund 1,4 Milliarden Euro erhöht. „Doch auch diese Summen werden wahrscheinlich kaum in Anspruch genommen, weil die Pflegenden einfach zu wenig über ihre Möglichkeiten informiert sind“, mahnt der Geschäftsführer des Essener Vereins.

Pflegende sind zu wenig informiert

„Wir brauchen mehr Beratungsangebote, bei denen die Angehörigen sicher sind, dass die Berater voll auf ihrer Seite stehen. Das kann mit den Pflegekassen, die gleichzeitig der Kostenträger sind, nicht funktionieren“.

Die Familien- und Krankenpflege e. V. Essen bietet Beratungsangebote in Gruppen oder auch individuelle Besuche vor Ort an, um gemeinsam mit den Pflegenden zu sehen, welche Hilfsmittel in der jeweiligen Situation sinnvoll sind oder wie sich die Angehörigen mit Hilfe von Kurzzeitpflege eine Pause gönnen können. „Die Pflegenden sind häufig sozial isoliert“, weiß Dirk Brieskorn. Als Person existierten sie kaum noch. „Denn auch wenn sie jemanden treffen, geht es meistens um die Frage, wie es dem Kranken zuhause geht“, so Brieskorn. „Wir versuchen ihnen zu vermitteln, dass sie auch mal etwas für sich tun dürfen“. Im Endeffekt sei eine ausgewogene Mischung aus professioneller Pflege von Dienstleistern und persönlicher Betreuung durch Angehörige ein guter und praktikabler Mittelweg.