Essen. Der pensionierte Essener Kinderarzt Werner Strahl wagt sich immer wieder in die Krisenherde der Welt. Zuletzt reiste er als Vorsitzender von Cap Anamur nach dem Taifun „Haiyan“ auf die Philippinen.
Er riss alles mit sich, was ihm in die Quere kam: Häuser, Menschen, ganze Städte und Palmenhaine. Drei Monate ist es her, dass Taifun „Haiyan“ 8000 Menschen den Tod brachte. „Ein Großteil der Hilfsorganisationen sind mittlerweile schon wieder verschwunden“, erzählt Werner Strahl, Vorsitzender von Cap Anamur, dem Verein deutscher Notärzte. Dabei sei es gerade jetzt wichtig, die Menschen beim Wiederaufbau zu unterstützen, weiß der pensionierte Kinderarzt aus Werden. Als die Schreckensnachricht im November in die Medien brach, „dauerte es eine halbe Stunde bis klar war, dass wir hinfliegen. Und zwar sofort“, erinnert sich Werner Strahl.
Am nächsten Tag saßen sie im Flieger. Zu zweit, ohne irgendwelches Material, aber mit ganz viel Geld. „Man bekommt vor Ort alles, was man braucht. Egal ob Medikamente oder Baumaterial“, erklärt Strahl. Während andere große Organisationen noch mit „einem tonnenschweren Brocken Material“ wegen der zerstörten Infrastruktur am Flughafen festsaßen, wären sie bereits außerhalb der 200 Kilometer langen Verwüstungsschneise mit lokalen Partnern auf dem Weg gewesen. „Wir nutzen das Material, die Kenntnisse und die Arbeitskraft der Bevölkerung“, erklärt Strahl, der seit zwei Jahren Vorsitzender des Vereins ist.
Kaum vorstellbare Zerstörung
Zahlreiche der kleinen Inseln waren komplett vom Hilfsnetz abgeschlossen. Normale Schiffe hatten keine Chance, die 7000 Menschen auf der Insel Doong in dem extrem flachen Wasser der Korallenriffe zu erreichen. „Wir besorgten uns sofort ein paar von den winzigen philippinischen Nussschalen und setzten über“, erzählt Strahl. „Das Bild, was sich uns dort bot, war entsetzlich“. Der 68-Jährige hat Bilder im Kopf, die „kaum vorstellbar“ sind. Er hat Dinge gesehen, so „schrecklich“, dass er davon lieber nicht sprechen möchte, die ihn aber wohl immer begleiten werden.
Ein Meer von Brettern auf dem Boden zeugte davon, dass dort einmal Hütten gestanden hatten, die ganze Palmenlandschaft war abgeknickt. „Das bedeutet, dass die Menschen die nächsten zehn Jahre nichts ernten können“, erklärt Strahl. Weder Bananen, noch Kokosnüsse – ihre Haupterwerbsgüter. Die Hälfte der Häuser war komplett zerstört, viele andere schwer beschädigt. Schulen hatte der Sturm hinweggerissen, genauso wie den gerade eingeweihten Kindergarten.
Unterstützung für ein weiteres Jahr
„Wir haben zwei Boote dauergemietet, die Tag für Tag hin und her fahren und Material auf die Insel bringen“, erzählt Strahl. Gut 150 von den 500 Häusern seien schon wieder aufgebaut. „Ein Jahr lang werden wir die Menschen dort sicherlich noch unterstützen“, sagt Strahl. Das Material ist bezahlt, die Arbeitskraft liegt in den Händen der Bewohner.
„Die Hilfe auf den Philippinen ist absehbar. Das wird sicher gut laufen, wenn erst einmal alles aufgebaut ist“, sagt Strahl. In anderen ihrer Einsatzgebiete, sei das schwieriger. „Die Gefahr, dass unser neu gebautes Krankenhaus im Kongo durch den Krieg wieder zerstört wird, ist sehr groß“, weiß Strahl.
Agieren unabhängig vom Staat
Die Not sei überall eine andere. Bereits in 54 Ländern war Cap Anamur aktiv. Derzeit unterstützen sie Menschen in sieben Ländern, darunter auch Syrien, der Sudan und Afghanistan. Dabei scheuen sie weder Konfliktherde noch Krieg. Im Fokus steht die humanitäre Hilfe für die Not leidende Bevölkerung. „Wir bewegen uns bewusst zwischen den Fronten, um unabhängig agieren zu können“, erklärt Strahl. Daher seien auch staatliche Gelder tabu. Der Verein finanziert sich ausschließlich aus privaten Spenden. Was auch Einsätze möglich macht, die sonst vom Staat unterbunden würden.
Ein „besonderes Steckenpferd“ ist dem ehemaligen Kinderarzt ein Haus für Straßenkinder in Sierra Leone. 20.000 Straßenkinder leben in der westafrikanischen Republik. Ihr Lebensraum sind die Slums. Nachts arbeiten sie zwischen 0 und 5 Uhr auf den riesigen Märkten und „machen für einen Hungerlohn Drecksarbeit“, sagt Strahl. Viele von ihnen versuchen, sich damit das Schulgeld zu verdienen. Denn das ist ihr größter Traum. Etwas zu lernen. In dem Heim versuchen die Mitarbeiter von Cap Anamur den Kindern eine Perspektive zu schaffen und sie zurück zu ihren Familien zu bringen oder an Pflegeeltern zu vermitteln. Neben der intensiven persönlichen Betreuung bekommen sie ein Geschenk, von dem sie schon immer geträumt haben: Ein Jahr Schulgeld, Bücher und die Schuluniform. Rund 300 Kindern schenkt der Verein pro Jahr damit die Chance auf ein neues Leben.
Rund 30 Mitarbeiter hat Cap Anamur weltweit im Einsatz. „Bei uns geht’s klassisch kommunistisch zu. Es gibt Ärzte, Schwestern und Techniker, die alle das gleiche Gehalt bekommen.“ Um ihre Wohnung zu halten, zahlen alle drauf. Hinter dem Einsatz steckt eine besondere Motivation. „Wir können die Welt nicht verändern. Wir wollen den Menschen, denen wir helfen, Respekt zollen“, erklärt Werner Strahl, der seit 34 Jahren ehrenamtlich für den Verein aktiv ist. Dabei nehme er selber sehr viel mit. „Die Menschen leben in größter Not und bringen trotzdem einen unglaublichen Optimismus mit“, hat Strahl erlebt. Das habe ihn ein wenig gelöst von dem übersteigerten Sicherheitsbestreben der westlichen Welt.