Essen. 25 Jahre lang hatte Werner Strahl eine Kinderarzt-Praxis in Werden. Nun ist der 68-Jährige Vorsitzender der Hilfsorganisation „Cap Anamur. Deutsche Not-Ärzte e.V.“ Seine nächste Dienstreise führt nach Sierra Leone.

Er ist 68 Jahre alt, hat vor zwei Jahren seine Kinderarzt-Praxis in Werden nach 25 Jahren aufgegeben und übernimmt nun noch einmal ein verantwortungsvolles Amt: Werner Strahl wird neuer Vorsitzender der Hilfsorganisation Cap Anamur. Fit genug fühle er sich und an tatenlosen Ruhestand habe er ohnehin nie gedacht: „Ich mache noch Praxisvertretungen. Ich habe doch den schönsten Beruf!“

Er hat aber auch eine Frau, zwei Töchter und fünf Enkel, und gibt unumwunden zu: „Meine Frau hat sich vielleicht anderes vorgestellt, aber sie hat gesagt: Du musst das machen.“ Denn erstens ist Strahl gefragt worden, ob er den Cap-Anamur-Vorsitz übernimmt, zweitens ist soziales Engagement bei ihm ein Wesenszug, der seine Lebensgestaltung schon früh geprägt hat.

„Hier ist eine Insel der Glückseligen“

Gleich in den Anfängen von Cap Anamur stieß der junge Arzt zu der Hilfsorganisation: „Ich hatte gerade sieben Jahre Neurochirurgie hinter mir und begann mit der Pädiatrie.“ Und die Kinderheilkunde habe zu den Auslandseinsätzen prima gepasst: Zweimal ging er für sechs Wochen nach Somalia. Bei Cap Anamur sei man bald darauf gekommen, dass solche Kurzeinsätze wenig effektiv sind: Die Arbeit vor Ort sei ohne die ständigen An- und Abreisen, Übergaben und Wechsel besser zu gestalten. „Aber wenn man in einem Land war, in dem zehn Prozent der Frauen und viele Kinder bei der Geburt sterben, kehrt man auch nach sechs Wochen als ein anderer Mensch zurück. Wenn man dann unsere Insel der Glückseligen sieht, trifft einen das sehr. Bei so einem Einsatz wird man in beiden Reiserichtungen sehr bewegt.“

Strahl, der seit 32 Jahren für Cap Anamur arbeitet und seit sechs Jahren im Vorstand sitzt, kann sich also gut hineinversetzen in die Ärzte, Krankenschwestern und Techniker, die heute für die Hilfsorganisation ins Ausland gehen – und zwar mindestens für sechs Monate. Sie alle bekommen ein Einheitsgehalt von 1400 Euro brutto, ausgezahlt werden demnach 780 Euro: „Das geht im wesentlichen für die Miete der heimischen Wohnung drauf.“

Ruhestand ja, Stillstand nein

Trotzdem verlängern viele Ehrenamtliche ihren Einsatz auf ein Jahr, manche bleiben sogar viele Jahre. „Heute macht sich das auch gut im Lebenslauf. Etwas Außergewöhnliches vorzuweisen, hilft bei der Karriereplanung.“

Strahl selbst kann längst in anderen Kategorien denken: „Ich brauche mir keine Meriten mehr zu verdienen. Aber ich bin ein recht beharrlicher Typ und trage nun Verantwortung für 30 Deutsche, die für uns im Ausland arbeiten und für jede Menge Einheimischer, die von unserer Arbeit abhängig sind.“ Eine Aufgabe, die Edith Fischnaller nach acht Jahren abgegeben hatte. Ihr Nachfolger Werner Strahl ist auf zwei Jahre gewählt, sein Büro ist in Köln, sein Einsatzgebiet fast die ganze Welt. Selbst ins abgeschottete Nordkorea hat es die Hilfsorganisation geschafft. Strahl reist im November nach Sierra Leone; und in Essen ist er ja auch weiter aktiv, etwa in der Gesellschaft für Deutsch-Russische Begegnung e.V. Zu soviel Engagement sagt er nur: „Das ist halt der nötige Tritt in den Hintern, um im Ruhestand nicht einzuschlafen.“

Kleine Organisation - große Schlagzeilen: Cap Anamur

Die Hilfsorganisation „Cap Anamur - Deutsche Not-Ärzte e.V.“ mit Sitz in Köln wurde 1979 von Christel und Rupert Neudeck gegründet; zu ihren Mitstreitern zählte auch der Schriftsteller Heinrich Böll. Sie wollten dem Flüchtlingselend auf dem südchinesischen Meer nicht tatenlos zusehen: Dort trieben Tausende vietnamesische Flüchtlinge auf seeuntüchtigen, überladenen Booten, zahllose Menschen kamen ums Leben. Der kleine Kölner Verein charterte den Frachter „Cap Anamur“ (der der Organisation später den Namen gab), rettete Tausende Boat People – und wurde schlagartig berühmt.

Jahrzehntelang arbeitete Cap Anamur in Kriegs- und Krisengebieten, an denen kein vergleichbares Medieninteresse bestand: Hier wurden Schulen und Kliniken aufgebaut, Ärzte und Hebammen geschult, Straßenkinder ausgebildet. „Wir versuchen, die Lage vor Ort zu verbessern, damit die Menschen nicht aus ihrer Heimat flüchten müssen“, sagt der neue Vorsitzende von Cap Anamur, Werner Strahl.

Cap Anamur kann nicht nur Siege vorweisen

Mediale Aufmerksamkeit zog die Organisation viele Jahre später mit einem fehlgeschlagenen Einsatz für Flüchtlinge auf sich: 2004 nahm der damalige Vorsitzende Elias Bierdel mit der zweiten Cap Anamur vor der afrikanischen Küste 37 Flüchtlinge auf. Es kam zum wochenlangen Nervenkrieg mit den italienischen Behörden, die das Schiff schließlich zwar auf Sizilien landen ließen, aber Bierdel und zwei Crew-Mitglieder festnahmen und das Schiff beschlagnahmten. Die meisten Flüchtlinge wurden abgeschoben, die Cap Anamur wurde verkauft.

Werner Strahl weist darauf hin, dass Bierdel und die Mitangeklagten nach fünf Jahren im Oktober 2009 von einem italienischen Gericht freigesprochen worden. Auch habe er bis heute tiefes Verständnis für die afrikanischen Flüchtlinge: „An der ungerechten Verteilung in der Welt hat sich ja nichts geändert, und die Familien schicken ihre Klügsten nach Europa, damit sie dort ihr Glück machen. Diejenigen, die im Zweiten Weltkrieg nach Amerika gelangten, haben wir später beglückwünscht.“ Doch es bleibt die Erkenntnis, dass sich Cap Anamur mit dem Einsatz überhoben haben könnte. „Wir können die Situation auf dem Mittelmeer nicht lösen, das ist Sache der Politik. Wir tun alles, um die Lage in den betroffenen Länder zu verbessern.“