Essen. Das Landgericht Essen musste einen 54 Jahre alten Mann von der Anklage des mutmaßlichen Missbrauchs freisprechen, da sich das Opfer Jahre nach der Tat nicht an das genaue Datum erinnern konnte. So war es für das Gericht nicht klar, ob sie vor oder nach ihrem 14. Geburtstag sexuell missbraucht wurde.
Beweisnot, im Zweifel für den Angeklagten. Mit deutlichem Unbehagen sprach die V. Strafkammer den Altenessener frei, der laut Anklage ein Nachbarmädchen jahrelang sexuell missbraucht haben soll. Aber elf Jahre nach dem mutmaßlich ersten Vorfall ließ sich nicht feststellen, dass das Opfer zur Tatzeit jünger als 14 Jahre alt war.
14 Jahre ist die Altersgrenze für Missbrauchsdelikte. Bis zu diesem Alter ist jede sexuelle Handlung an Kindern strafbar. Doch in nichtöffentlicher Sitzung hatte die junge Frau aus Sicht des Gerichtes, aber auch der Staatsanwältin Alexandra Rott, nicht belegen können, dass sie bei der ersten Tat erst elf Jahre alt war. Das hatte sie ursprünglich bei der Polizei gesagt. Auch ihr eigener „Opfer-Anwalt“ Tobias Degener zeigte sich nicht überzeugt und beantragte Freispruch für den Angeklagten.
Aber wie soll man sich auch genau an ein Datum erinnern, wenn es viele Jahre zurückliegt? Und bei dieser Zeugin kam hinzu, dass sie damals andere sexuelle Erfahrungen erleiden musste. Ein Freund ihrer Eltern hatte sie mehrfach sexuell missbraucht. Als ihre Mutter das damals hörte, zeigte sie den Mann direkt an. Drei Jahre Gefängnis bekam er im Jahre 2007. Bei ihm war die Beweislage einfacher, weil er die Sexualtaten an der Elfjährigen gefilmt und auf dem Computer abgespeichert hatte.
Immer wieder sexuelle Handlungen
Der mutmaßliche Missbrauch durch den jetzt angeklagten Nachbarn, auch er ein guter Freund der Familie, zog sich länger hin. Der Arbeitslose fuhr sie, die nebenbei Musik machte, zu Konzerten. Immer wieder sei es zu sexuellen Handlungen gekommen, erzählte die Zeugin dem Gericht. Auch Geschlechtsverkehr habe er gewollt, ihre Ablehnung aber immer akzeptiert.
Der 54-Jährige räumt sexuelle Handlungen ein, damals sei das Nachbarmädchen aber schon 16 Jahre alt gewesen. Warum sie ihn Ende 2012 angezeigt habe, fragt Richterin Luise Nünning ihn. „Weil sie Schulden bei mir hatte“, antwortet er. Und weiter: „Ich habe ihrem Mann davon erzählt, weil ich ja auch klamm war. Das waren etwa 1200 Euro für das Benzin, das ich für sie verfahren habe.“ Als Samariter stellt er sich dar, der ihr bei Umzügen geholfen habe: „Sie glaubte immer, alles umsonst zu bekommen.“
Mit Schulden unter Druck gesetzt
Umgekehrt wird auch ein Schuh daraus. Mit den Schulden habe er sie unter Druck gesetzt, hatte die junge Frau erzählt. Sie könne diese auch anders als mit Geld abbezahlen, soll er gesagt haben.
Juristisch spielen diese Versionen keine Rolle mehr. Richterin Nünning bittet die Prozessbeteiligten ins Beratungszimmer, kündigt den Freispruch an. Die 22-Jährige weint, als ihr Anwalt ihr davon erzählt. Staatsanwältin Rott beantragt Freispruch, „weil ich die Taten zeitlich nicht einordnen kann“. Moralisch sei es aber sehr zu beanstanden, dass der heute 54-Jährige sexuelle Handlungen an der 16-Jährigen vorgenommen habe.
Verteidiger Volker Schröder weist das zurück: „Es kommt im Strafrecht nicht auf das Moralische an, sondern auf das, was nachzuweisen ist.“ Das Gericht nennt das vom Angeklagten eingeräumte Verhalten dennoch „unangemessen“. Rechtlich kam das Gericht zum Freispruch, allerdings mit einem Wort des Bedauerns von Richterin Nünning: „Es tut uns leid, dass wir nicht mehr Licht in das Dunkel bringen konnten.“