Essen. . Vor 25 Jahren übernahm Achim Middelschulte (68) den Vorsitz des Essener Kinderschutzbundes. Damals kam er als Krisenmanager – nun übergibt er seinem Nachfolger den größten Ortsverband bundesweit. Damit endet in Essen auch eine Ära.

Beim Essener Kinderschutzbund geht in dieser Woche eine Ära zu Ende: Nach einem Vierteljahrhundert gibt Achim Middelschulte das Amt des Vorstandsvorsitzenden ab. Im Gespräch erzählt der 68-Jährige frühere Ruhrgas-Vorstand, wie Management und Mitmenschlichkeit einander ergänzen und wie die Arbeit im Kinderschutzbund ihn geerdet hat. Die Aufgabe des Spendensammelns hat er gern – und erfolgreich – gemacht.

Herr Middelschulte, als Sie vor 25 Jahren Vorstandsvorsitzender des Essener Kinderschutzbundes wurden, standen Sie mitten im Berufsleben, hatten Funktionen in Spitzenverbänden – Sie plagte doch nicht etwa die Langeweile?

Achim Middelschulte: Im Gegenteil, ich war erst kurz zuvor Vorstand bei Ruhrgas geworden. Ich bin gefragt worden, weil der Essener Kinderschutzbund damals vor der Zahlungsunfähigkeit stand. Herr und Frau Seelig als meine Vorgänger waren hoch beeindruckende Menschen, die den Kinderschutzbund allein aus Spenden finanzierten und mit großem persönlichen Einsatz leiteten; die nahmen auch mal Kinder in Not bei sich zu Hause auf. Aber wenn die Spenden einmal einbrachen, war die gesamte Arbeit bedroht. In dieser Krise war die Stadt eingesprungen, hatte aber eine stärkere Management-Orientierung gefordert. So ließ ich mich von Gisela Liesen überzeugen – ihr kann man ohnehin nichts abschlagen.

Wie erging es Ihnen als Manager zwischen Ehrenamtlichen und Erziehern?

Middelschulte: Das war schon eine andere Welt: Es gab damals vielleicht ein Dutzend Festangestellte, alles andere machten Ehrenamtliche. Das war sehr familiär – und ich musste Strukturen einziehen, ordentliche Arbeitsverträge aufsetzen, Qualitätskriterien für die Kindertagesstätten aufstellen. Aber ich bin kein Sozialpädagoge und muss zugeben, dass mir das bis heute fremd geblieben ist. Ich fühle mich zwar als überzeugter Kinderschützer, habe aber meine Verantwortung zeitlebens darin gesehen, für die Organisation zu sorgen – und Geld heranzuschaffen.

Als Spendensammler hatten Sie einigen Erfolg: Der Essener Kinderschutzbund ist heute der größte Ortsverband in Deutschland. . .

Middelschulte: Tatsächlich begann bald ein atemberaubender Wachstumsprozess. Wir haben heute 210 Hauptamtliche und sind fast ein mittelständisches Unternehmen.

Sie betreiben die Kindernotaufnahme Spatzennest, Kitas, bieten Hausaufgabenhilfe an – bügeln sie auch staatliches Versagen aus?

Middelschulte: Wir akquirieren ja nicht nur Spenden, sondern auch öffentliche Gelder. Früher hatte sich der Kinderschutzbund um solche Mittel, die ihm zustanden, nicht bemüht. Heute erhalten wir unseren Teil der Sozialaufwendungen und sind ein anerkannter freier Träger.
Als ich anfing, lebte der Ortsverband vielleicht von 300.000 DM Spenden im Jahr, heute haben wir einen Umsatz von fast 10 Millionen Euro, von denen wir immerhin 1,5 Millionen Euro als Spenden einsammeln müssen

Kurz, der Essener Kinderschutzbund ist heute richtig reich. . .

Middelschulte: Das denken viele Menschen, aber wir haben eben einen Riesenapparat. Und ich erlebe in den letzten Jahren, dass die Spendenbereitschaft bei Privatleuten zurückgeht. Darum müssen wir uns jedes Jahr die Frage stellen: Was machen wir, wenn mal nicht genug Geld reinkommen sollte; von welchem Mitarbeiter, von welchem Projekt trennen wir uns. Unsere Projekte wie „Spielen statt Gewalt“, „Mein Körper gehört mir“ und „Lernen wie man lernt“ könnten ohne Spenden gar nicht überleben: Denn die öffentliche Hand zahlt nicht für Prävention – obwohl die hohe soziale Folgekosten erspart. Darum kümmern wir uns möglichst früh um die Kinder.

Extremes Wohlstandsgefälle in Essen 

Die WAZ-Leser haben 100.000 Euro für das Lernhaus in Altenessen gespendet. Dort werden Kinder durchs Schulleben begleitet, die sprachliche oder soziale Probleme haben. Denken Sie manchmal, dass Sie in Bredeney auf einer Insel der Seligen leben, wenn Sie im Lernhaus zu Besuch sind, Herr Middelschulte?

Middelschulte: Bredeney ist einer der reichsten Stadtteile bundesweit, und ich kenne kaum eine Stadt, die ein so großes Wohlstandsgefälle hat wie Essen. Dabei war es auch für mich als Personalvorstand wichtig, den Blick für das normale Leben zu behalten, geerdet zu sein. Diesen Blick habe ich dem Kinderschutzbund zu verdanken! Das wünsche ich auch anderen, die ohne materielle Sorgen leben können. Wenn jeder von ihnen einmal ein Ehrenamt machte, ginge es Deutschland besser. Früher war es leichter, die Menschen dafür zu gewinnen, da war es wirklich eine Ehre, für ein Ehrenamt angesprochen zu werden. Es ist traurig, dass dafür heute vielen die Zeit fehlt. Aber: Noch immer arbeiten für den Kinderschutzbund in Essen 500 Ehrenamtliche – ohne die ginge es nicht!

Sie sind selbst einer dieser Ehrenamtlichen, fällt Ihnen der Abschied nach 25 Jahren schwer?

Middelschulte: Ich bleibe dem Kinderschutzbund verbunden: Wir werden ein Kuratorium mit allen unseren Ehrenmitgliedern gründen. Außerdem habe ich in Ulrich Spie einen hervorragenden Nachfolger, einen Vordenker, ohne den schon die bisherige Entwicklung nicht denkbar gewesen wäre.

Sie setzen sich für Kinder ein, die keinen so guten Start ins Leben haben, wie war Ihre Kindheit?

Middelschulte: Mein Vater ist im Krieg gefallen, ich bin wenige Tage nach Kriegsende zur Welt gekommen; das war keine so glückliche Ausgangssituation. Ich habe aber nie wirtschaftliche Not in der Nachkriegszeit gekannt, war eher ein von Mutter und Großmutter verwöhntes Einzelkind.

Haben sich Ihre beiden Töchter mal beklagt, dass ihr Vater zu selten zu Hause war?

Middelschulte: Vorwürfe gab es nie, ich hatte aber immer ein schlechtes Gewissen. Meine Frau, die selbst aus einer großen Familie stammt und als Lehrerin einige Jahre in Problemvierteln gearbeitet hat, hat sich beispielhaft gekümmert. Ihre Familie hat mich voll aufgenommen, und wir haben mittlerweile selbst fünf Enkelkinder, das sechste ist unterwegs.