Essen. 20 Jahre Leben aus dem Koffer. 20 Jahre im Stau auf der Autobahn und in austauschbaren Hotels von Braunschweig bis Bielefeld. Jetzt ist es auch mal genug. Dr. Ludger Stratmann, Erfinder des Medizin-Kabaretts, geht auf Abschiedstournee. Danach öffnet er die Lach-Praxis nur noch in seinem Essener Theater. Ein Gespräch.
„Der Doktor Stratmann hört auf?“ Da zuckte die Fangemeinde. Entwarnung! Abschiedstournee, ja. Abschied von der Bühne, nein. Niedergelassen bleibt er weiter in Essen; „Tschüs“ sagt er von Recklinghausen bis Lüdenscheid. Uns besuchte er in der Redaktion – und sprach übers Alter, Tabus und den Traum vom völlig anderen Kabarett-Programm.
Die Abschiedstournee ist der Abschied vom Gastspiel. Sie hören damit auf, weil...
Ludger Stratmann: ...weil das einfach ex-trem anstrengend ist und weil ich älter geworden bin. Ich war 45, als ich beschlossen habe, es als Kabarettist zu versuchen. Das ist 20 Jahre her. Das waren auch 20 Jahre zwischen Autobahnen, Staus und den vielen Hotelzimmern, in denen man sich seinem Auftritt entgegengewartet hat. 160-mal im Jahr! Ehrlich: Es gibt Schöneres, als zum dritten Mal in Braunschweig auf der Bettkante zu sitzen und noch zwei Stunden zu haben, in denen man dann doch nichts mehr macht.
Aber Sie haben mit diesen Touren mehr Ruhrgebiet exportiert als mancher politische Botschafter.
Stratmann: Das kann schon sein. Oft ging das gut, ich trete ja bis Leipzig auf. Den Süden meide ich. In Stuttgart wollte ich schon mal das Saallicht einschalten lassen, weil ich dachte, ich wäre allein. Wenn Sie eine halbe Stunde keinen einzigen Lacher haben, muss das doch einen Grund haben...
Waren Sie allein?
Stratmann: Nee, da saßen 250 Leute, die mich einfach nicht verstanden haben. Mein Kabarett funktioniert natürlich über die Sprache des Ruhrgebietes und die besondere Mentalität. Wer dem nichts abgewinnen kann, bei dem kann ich kaum was holen. Mein Programm in reinem Hochdeutsch: Dat wär’ nix. Das Milieu ginge verloren.
Jeder Zuschauer weiß, dass Sie Arzt sind. Hätten Sie den Erfolg auch mit einem anderen Beruf gehabt?
Stratmann: Nein, niemals, nur als Hausmeister oder so, das wäre nie so eingeschlagen. Diese Arztgeschichten werden einfach anders vom Publikum aufgenommen, wenn sie wissen, wer das sagt. Auch eher Deftiges wie die Genital-Zugabe, die ich seit zehn Jahren jeden Abend gebe: „Pilz inne Buxe“. Das muss ein Arzt erzählen. Ich darf das.
Ist das die große Gemeinsamkeit von Medizin und Kabarett: Es gibt keine Tabus?
Stratmann: Als Arzt sieht man alles. Man kann nicht einfach weggucken. Als ich noch in Gelsenkirchen im Krankenhaus war, da musste ich viel verarbeiten. Was ich da zum Beispiel als Notarzt auf der Kurt-Schumacher-Straße alles von den Straßenbahnschienen gekratzt habe, das geht auf keine Kuhhaut. Damit psychisch fertig zu werden, war eine Aufgabe. Jeder braucht da sein Ventil. Manche werden zynisch. Satire ist ein bisschen freundlicher, das liegt mir mehr.
Jeder Tabubruch hat aber auch etwas Befreiendes.
Stratmann: Auf der Bühne auf jeden Fall. Im normalen Leben ist das Sprechen über die Prostata ziemlich tabu. Wenn ich es aber auf der Bühne nicht kann, wo dann?
Sie sprechen als Kabarettist vom Altern, von Badeliften und Rollatoren und nehmen vielleicht dem, was uns allen droht, den Schrecken?
Stratmann: Ich sehe das so. Für die Älteren ist es ein Wiedererkennen, für die Jüngeren ein Heranführen.
Hat sich in Ihrem Leben wirklich etwas verändert, weil Sie vom normalen Bottroper Hausarzt zum Unterhalter geworden sind?
Stratmann: Früher gab es immer mal Zeiten im Privatleben, in denen ich nicht Arzt war. Das geht jetzt nicht mehr. Ich kann nichts sehen, nichts hören, ohne zu überlegen, ob das eine Szene oder ein Gag wäre. Das ist schön, aber es zeigt irgendwie auch, wie groß der Schatten dieser Karriere ist.
„Das Ding ist eine Modeerscheinung“
Da wird der Kabarettarzt richtig ernst. Ganz beiläufig kommen wir im Gespräch auf den Rollator. Klar spielt er in seinen Szenen eine Rolle. Im Alltag aber findet Dr. Ludger Stratmann das Teil fehl am Platze.
„15 Betten. 15 Rollatoren. Kann da keiner mehr von alleine laufen?“
Das Thema Gehwägelchen bringt Sie richtig in Fahrt?
Gehen Sie mal nachts auf den Flur eines Altenheims: 15 Betten, 15 Rollatoren. Da fragt man sich: Kann da keiner mehr von alleine laufen?
„Rollatoren werden viel zu früh gebraucht.“
Kann denn einer?
Aber sicher! Rollatoren werden viel zu früh gebraucht. Das ist schlimm! Die alten Menschen verlieren ihr Gleichgewichtsgefühl. Der Rollator macht sie immobil. Das Ding ist eine Modeerscheinung. Aber natürlich hat man im Heim Angst, dass einer fällt – und da gibt’s prophylaktisch für jeden einen. Das Teil hätte ich gerne erfunden. Ich würde alle ab 40 hinter so’n Ding stellen und sagen: Das ist gesund!
„Erst nutzen, wenn es nicht anders geht.“
Was ist Ihr Rat in Sachen Rollator?
Erst benutzen, wenn’s gar nicht anders geht.
Lassen Sie uns noch einmal über Auftritte reden. Sie wirken ausgeglichen, gemütlich, ja leutselig, aber ein Abend, der schlecht läuft...
Stratmann: ...ist Gott sei dank selten, aber für mich furchtbar. Ich leide, man kriegt das auch nicht mehr rumgerissen, obwohl man es merkt. Es hilft auch nichts, dass man hundert gute Abende im Rücken hat. Auch nur ein böser Eintrag bei Facebook fuchst mich. Ja, ich bin dünnhäutig. Schrecklich!
Wenn die Abschiedstour vorbei ist, stehen Sie nur noch auf Ihrer Essener Bühne. Gibt es einen programmatischen Traum für diese Zeit?
Stratmann: Aber klar. Ich denke jeden Tag darüber nach: Was kannst Du mal anders machen? Ich würde gerne auch mal ein anderes Publikum anlocken. Ich würde gerne auch denen gefallen, die mich und meine Rolle überhaupt nicht leiden können, die ich aber schätze oder sogar bewundere: so ein Saal voller Elke Heidenreichs oder 500 Richard David Prechts. Ich schreibe, glaube ich, mal „Depredy“ statt „Comedy“, 2 Stunden Depression. Das wär’s!
Wer wäre denn der ideale Zuschauer dieses völlig neuen Stratmanns?
Stratmann: Die beiden Genannten natürlich und die 25-jährige blonde Vollbusige im Dirndl, mein derzeitiger Schmachttyp, und die politisch interessierten Sozialpädagogen, die ihr ganzes Leben mit der Stirn in Falten herumlaufen und über ihr Leben nachdenken und die pseudointellektuellen anonymen Blogkotzer.
Ihr Theater hat aber 320 Plätze.
Stratmann: Die Anderen dürfen natürlich auch kommen.