Essen. . Die Zeche Zollverein empfängt jährlich hunderte internationale Gäste, zuletzt eine Delegation aus Taiwan. Und alle kommen mit der selben Frage: Was fängt man mit industriellem Erbe an? Oder anders gefragt: Wieso sollte man überhaupt etwas bewahren, was längst nicht mehr gebraucht wird?
Sie kommen aus Südafrika, Chile, Australien und zuletzt aus Taiwan – Architekten, Fernsehteams, Journalisten und sonstige Delegationen. Im Schnitt zwei pro Woche. Und alle kommen sie mit der gleichen Frage: Was fängt man mit industriellem Erbe an? Oder anders gefragt: Wieso sollte man überhaupt etwas bewahren, was längst nicht mehr gebraucht wird? Stillgelegte Fabriken abzureißen und stattdessen etwas Neues hochzuziehen, ist doch viel unkomplizierter – und in den Industrienationen Asiens gang und gäbe. Dass aber auch dort Umdenken stattfindet, wieso Zollverein in dem Direktor einer ehemaligen taiwanesischen Brauerei einen Bruder im Geiste fand, und warum es für diese Brauerei dennoch zur „Weltdesignhauptstadt“ reicht, zeigte ein Tag mit der Delegation aus Taiwan auf Zollverein.
Was heißt eigentlich „Hallo“ auf Taiwanesisch? Das schaut Nikolaos Georgakis von der Stiftung Zollverein noch einmal schnell im Internet nach, bevor er die Gäste aus Taipeh, der Hauptstadt Taiwans, in Empfang nimmt. Wäre aber gar nicht nötig gewesen. Jung-Wen Wang, Direktor des „Huashan Creative Park“, einer Kulturbrauerei und Präsident einer dortigen Buchstiftung, sein Sohn sowie eine mitgereiste Schriftstellerin und ein Lyriker verstehen ihn auch so ganz gut – dank Dolmetscherin Wei Tang, die sich ebenfalls von Taipeh nach Frankfurt aufgemacht hatte.
Frankfurt – Essen – Berlin
13 Flugstunden und einen Buchmesse-Besuch später legten die fünf Besucher vergangene Woche einen Zwischenstopp in Essen ein, bevor es am gleichen Abend für sie weiter zum Literaturkolloquium nach Berlin ging. Dolmetscherin Tang, die in Taipeh Germanistik studierte, knapp zwei Jahre in Essen lebte und hier auch ihren Mann kennenlernte, der jetzt in Shanghai arbeitet, hatte den Stiftungspräsidenten überhaupt erst auf die Idee gebracht: „Ich war schon 2010 zur Kulturhauptstadt auf Familienbesuch hier und hab’ gesagt: Das muss man einfach selbst gesehen haben.“
Gesagt, getan. Und so steht Jung-Wen Wang eines verregneten Freitags staunend (erkennbar an unzähligen „Ohhhs!“ und „Ahhhs!“) unterm Förderturm und hält alles begeistert mit seiner Spiegelreflexkamera fest. „Ich habe schon viel von Zollverein gehört, aber ich bin überrascht, wie schön es in Wirklichkeit ist“, lässt der Brauereichef seinen ersten Eindruck übersetzen. In einem einstündigen Vortrag erfahren die gespannten Gäste dann alles über Zollverein früher und heute, über Ideen, Pläne, Finanzierungen – und dass es nur aus dem Grund zwei Pförtnerhäuschen am Eingang zum Zechengelände gibt, weil der Architekt die Symmetrie als ästhetischer empfand (nicht etwa, weil jemals tatsächlich zwei gebraucht wurden).
Verbundenheit trotz Unterschieden
Mit einem so ausgeklügelten „Masterplan“, den Referent Georgakis mehrfach erwähnt, namhaften Architekten und Besucherzahlen im Millionenbereich kann Jung-Wen Wangs Kulturbrauerei nicht mithalten. „Aber bei uns gibt es eine ähnliche Entwicklung wie hier“, erklärt er. Er habe seit 2007 als neuer Direktor der ehemaligen Schnapsbrennerei immerhin eine kulturelle Einrichtung geschaffen – mit vielen Ausstellungen, Kunstprojekten, Restaurants und Konzerten. Er wolle das Industriegelände, welches mitten im Stadtzentrum Taipehs liegt, für alle Einwohner zugänglich machen und attraktiv gestalten. Für eine Bewerbung zum Wettbewerb „Weltdesignhauptstadt“ habe es bisher allerdings aus einem einfachen Grund nicht gereicht: „Die Kulturbrauerei ist mit 33.000 Quadratmetern einfach zu klein für die Teilnahmebedingungen“, bedauert Wang.
Verbundenheit trotz Größenunterschieden stellt Wang dann später fest, als die Delegation den Denkmalpfad kennenlernt: Als Besucherführerin Serena L’hoest ihnen vom einstigen 100 Meter hohen Schornstein auf Zollverein erzählt, fällt ihm ein: „Bei uns ist das höchste Bauwerk genau so ein Turm – aber nur 41 Meter hoch. Damit sind wir Brüder im Geiste“, freut er sich. Rundum beeindruckt zeigt sich die Delegation auf der Aussichtsplattform des Ruhrmuseums: „Wir konnten uns nicht vorstellen, dass Fabriken auch so schön sein können.“
Von BBC bis Königin Beatrix
Zollverein ist ja nicht nur als Unesco-Weltkulturerbe weltweit bekannt, sondern kann sich gleichfalls mit mindestens ebenso weltbekanntem Besuch rühmen. Wen die Stiftung Zollverein alles dazuzählen darf, verrät (zumindest in den meisten Fällen) ein Blick ins Ehrengästebuch. Denn wie der Filzhut von Ex-Bundespräsident Horst Köhler ins Zollverein-Archiv gelangte, wieso die BBC beim Dreh auf ein Drei-Mann-Orchester bestand und warum sich ausgerechnet Königin Beatrix nicht im Ehrengästebuch verewigt hat und statt dessen royale Fotos zu Weihnachten schickt – das steht auf einem anderen Blatt.
In rote Leinentücher gehüllt, hinter dicken Türen in den Gefilden des Zechengelände verschlossen und nur mit weißen Samthandschuhen anzufassen – so bewahrt die Stiftung ihre gut gehüteten Gäste-Geheimnisse. „Essen ist stolz auf das Weltkulturerbe [...] und freut sich, Gäste aus aller Welt begrüßen zu dürfen“ – als Alt-Oberbürgermeister Wolfgang Reiniger sich 2002 auf diese Weise in dem heiligen Buch verewigte, konnte er noch nicht ahnen, wie wörtlich das nach dem Kulturhauptstadtjahr genommen werden würde.
Denn sie kamen in Scharen: die BBC war da, das polnische Staatsfernsehen, die vereinigte (nationale) Polit-Prominenz. Selbst Beatrix, Königin der Niederlande, gab sich schon die Ehre. Während für sie Großes aufgefahren wurde, musste sich die BBC das „Folkwang Streichquartett“ selbst heranholen. Die Fernseh-Macher waren nämlich so begeistert von der Info, dass in der Kulisse auch Klassik-Konzerte stattfinden, dass sie das bei ihrem eintägigen Dreh festhalten wollten. Leider stand für die nächsten Wochen kein Konzert an – da half nur ein spontaner Anruf bei der Uni Folkwang.
Spontan ist Königin Beatrix eher weniger. Von ihr ist kein Gruß im Gästebuch nachzulesen, denn ihre Exzellenz hatte zuvor klare Abmachungen ausgehandelt: „Jeder ihrer Schritte wurde vorab festgelegt und von zig Angestellten des Königshauses abgegangen“, sagt Rolf Kuhlmann, Pressesprecher der Stiftung.
Joachim Gauck war noch nicht da
Grüßen durfte man die königliche Hoheit während ihres Besuches schon mal gar nicht (außer sie reiche von sich aus ihre Hand), und sie würde ihre Signatur auch höchstens einem Buch widmen. Dies war leider schon mit einem Eintrag ins Stahlbuch der Stadt getan. Seither lasse sie der Stiftung zu Weihnachten ein Foto von sich samt Unterschrift zukommen – wohlmöglich eine Kopie.
Ein Original hingegen hinterließ Ex-Bundespräsident Horst Köhler bei der Eröffnung des Kulturhauptstadtjahres im Januar 2010: Er zog buchstäblich den Hut (einen dunkelgrünen Filzhut) und spendete ihn der damaligen Ausstellung. Mittlerweile befinde er sich aber in den Untiefen des Archivs, so Kuhlmann. Also der Hut. Na ja, auch Köhlers Nachfolger Christian Wulff, dessen Unterschrift vom Juli 2011 eine der vorderen Gästebuchseiten ziert, ist indes im Hinter-/Untergrund verschwunden. Ein Besuch von Joachim Gauck ist übrigens nicht geplant. Vielleicht ein gutes Zeichen für ihn.