Essen. . Viele Organspender sind derzeit verunsichert. Das Uni-Klinikum in Essen aber verteidigt die umstrittene Schnellvergabe. Das Verfahren „rettet Leben“, sagt der Transplantationsbeauftragte Dr. Gernot Kaiser im Gespräch über die Gerechtigkeit bei der Vergabe von Organspenden.
Das so genannte „beschleunigte Vermittlungsverfahren“ bei der Organspende ist auch am Essener Uni-Klinikum keine Seltenheit. Etwa jedes dritte in Essen transplantierte Organ sei auf diesem Weg vergeben worden, so der Transplantationsbeauftragte Dr. Gernot Kaiser im Interview mit der NRZ. Beim beschleunigten Verfahren handelt es sich um eine Ausnahmeregelung für Organe älterer oder kranker Personen. Dass es heute in erheblichem Ausmaß angewandt wird, hatte zuletzt für Irritationen gesorgt. Der Vorstand der Patientenschutzorganisation Deutsche Hospiz Stiftung, Eugen Brysch, sprach gar von einer „Einflugschneise für Manipulation“.
Am Uni-Klinikum weist man diese Deutung zurück. Die Ausnahmeregelung rette Leben, so Kaiser. Sie ermögliche die Verwendung von Organen, die früher gar nicht für eine Transplantation in Frage gekommen seien. „Die Alternative wäre, Organe verfallen zu lassen.“ Weil man in Essen besonders viel Erfahrung habe, traue man sich die Transplantation solch risikobehafteter Organe wohl auch besonders häufig zu.
„Unterschiedliche Debatten“
Der im Raum stehende Vorwurf, Ärzte an Transplantationszentren machten Organe schlechter als sie sind, um sie an der Warteschlange vorbei im eigenen Hause vergeben zu können, sei nicht haltbar, so Kaiser. 80 bis 90 Prozent der in Essen transplantierten Organe stammten aus anderen Zentren. Kaiser warnt zudem davor, diese Debatte zu vermischen mit der über die Geschehnisse an den Uni-Kliniken Göttingen und Regensburg. Vor- und Nachteile des geltenden Verteilungssystems seien das eine, mutmaßlich kriminelle Machenschaften einzelner Mediziner das andere.
Je schneller man in dieser Warteschlange voranrückt, desto höher die Chance auf Leben. Doch die Betroffenen wissen, dass es oft nicht schnell genug geht. Laut der Deutschen Stiftung Organspende sterben hierzulande im Durchschnitt täglich drei Menschen, die ein neues Organ benötigen. Umso wichtiger dürfte den Patienten das Wissen sein, dass es bei der Vergabe gerecht zugeht. Für Unruhe sorgt nun die Nachricht, dass viele Wartende zügiger an die Reihe kommen als andere. Hintergrund ist eine Ausnahmeregelung für die Organe von Älteren oder Kranken.
Interview: „Ein gewisses Dilemma bleibt immer“
NRZ: Ist das beschleunigte Vermittlungsverfahren auch am Essener Uni-Klinikum heute eher die Regel als die Ausnahme?
Dr. Gernot Kaiser: Das beschleunigte Vermittlungsverfahren ist tatsächlich keine Rarität, wird aber nur nach Versagen einer Vermittlung über den so genannten MELD-Score angewandt. Die Regel ist es nicht, es betrifft in Essen etwa ein Drittel der Patienten. Das Essener Universitätsklinikum ist deutschlandweit eines der größten Transplantationszentren. Hier werden viele Organe transplantiert, die über das beschleunigte Verfahren verteilt wurden.
Warum ist der Wert so hoch?
Nicht nur am Universitätsklinikum Essen gibt es eine lange Liste von Patienten, die auf ein Organ warten. Es wird versucht, möglichst vielen Betroffenen zu helfen. Das geht nur, wenn man auch Organe von Verstorbenen mit so genannten erweiterten Kriterien akzeptiert. Das kann hohes Alter sein, ein schwerer Grad von Verfettung des Organs oder Hepatitis. Sogar eine frühere Krebserkrankung ist kein Ausschlusskriterium. Da gehen wir medizinisch in einen Grenzbereich, das hätte man sich vor 20 Jahren gar nicht getraut. Weil wir in Essen ein großes Zentrum sind, haben wir auch mehr Erfahrung, was risikobehaftete Organe angeht und forschen intensiv in diesem Bereich.
Wird durch die Zunahme dieser Fälle nicht das „normale“ System ausgehebelt?
Die Mehrzahl der Spenderorgane wird nach wie vor über das übliche System vergeben, das die Schwere der Erkrankung des Patienten in den Vordergrund rückt. Wer lebensbedrohlich krank ist, soll schnell ein Organ bekommen und er braucht eines, das eine gute Qualität hat. Organe mit erweiterten Spenderkriterien, wie sie über das beschleunigte Verfahren vergeben werden, würde dieser Betroffene gar nicht überleben. Der stabile Patient dagegen hätte ohne beschleunigtes Vermittlungsverfahren nur eine geringe Chance auf ein Spenderorgan. Deshalb ist es wichtig, dass man solche Ausnahmeregelungen hat. Sie retten Leben. Die Alternative wäre, Organe verfallen zu lassen.
Dennoch steht nun der Vorwurf im Raum, die Transplantationszentren machten Organe schlechter als sie sind, um sie aus dem üblichen Verfahren herauszuhalten.
Ein Schlechtreden wäre nicht zielführend, weder für die anderen Zentren noch für uns. Außerdem: 80 bis 90 Prozent der Organe, die wir in Essen transplantieren, werden durch Chirurgen an anderen Transplantationszentren entnommen.
Offensichtlich hat der einzelne Arzt bei der Bewertung eines Organs aber großen Spielraum – ist es gut genug für das übliche Verfahren, oder nicht?
Auf dem Bogen, den der entnehmende Chirurg ausfüllt, gibt es vier Kategorien: gut, mittelmäßig, gerade noch akzeptabel oder nicht transplantabel. Natürlich gibt es da Grenzbereiche, das ist ein subjektiver Eindruck, der im OP entsteht. Bei fraglichen Fällen hilft die Beurteilung eines erfahrenen Pathologen.
Klingt trotzdem nach einsamen Entscheidungen.
Nein. Am Essener Uni-Klinikum haben wir zum Beispiel für die Leber eine wöchentliche Transplantationskonferenz, in der immer wieder gerade auch kritische Patienten besprochen werden. Neben den Transplanteuren sind auch Psychosomatiker, Gastroenterologen und Kinderärzte dabei. Die Konferenzbeschlüsse sind aktenkundig und jederzeit überprüfbar. Die Transparenz, die immer eingefordert wird, existiert bei uns also bereits.
Für jemanden, dem es sehr schlecht geht, dürfte dennoch schwer zu akzeptieren sein, dass so viele andere schneller ein Organ bekommen.
Klar, weil es ein sehr komplexes System ist. Es gibt aber auch viele Patienten, die das verstehen. Nochmal: Früher wären solche Organe von vornherein abgelehnt worden.
Nun kommen die Berichte über die Zunahme der Schnellvergabe in einer Zeit, in der durch den mutmaßlichen Transplantationsskandal von Göttingen und Regensburg ohnehin Verunsicherung herrscht.
Diese beiden Dinge muss man klar voneinander trennen. In Göttingen und Regensburg geht es wahrscheinlich um Betrug und die Fälschung von Daten, das wäre kriminell. In der anderen Diskussion geht es um Vor- und Nachteile eines Vergabesystems, das über Richtlinien der Bundesärztekammer und von Eurotransplant geregelt ist.
Würden Sie dafür werben, das jetzt geltende System beizubehalten?
Per se ist es eines, das gut funktioniert. Erfolgsaussicht, Dringlichkeit und Gerechtigkeit stehen dabei im Vordergrund, aber sie konkurrieren auch miteinander. Ein gewisses Dilemma bleibt immer.