Essen. Kazim Calisgan ist Leiter des Katakomben-Theaters im Girardet. In Rüttenscheid fand der Deutsch-Türke nach manchen Umwegen seine ideale Bühne. Seine Wurzeln hat der Künstler dabei nicht gekappt - obwohl er deutscher geworden ist.
Als Kazim Calisgan 1980 mit knapp 18 Jahren aus der anatolischen Provinzhauptstadt Malatya nach Deutschland kam, irritierte ihn am meisten diese Stille auf den Straßen. Kein Schreien, Hupen und Bremsenquietschen, keine Menschen, die von einer Bürgersteigseite zur anderen Neuigkeiten austauschen, die lauthals lachen oder streiten. Das stört ihn manchmal heute noch. Doch wenn er dann, getrieben von Sehnsucht, nach Istanbul fliegt, um endlich wieder einmal richtige Metropolenluft zu schnuppern, ist er meist schon ein paar Tage später wieder zurück. „Nicht auszuhalten“, seufzt er dann, „diese Hektik und der ewige Lärm.“
Ruhiger und deutscher geworden
Er ist halt ruhiger geworden – und deutscher. Das bedeutet aber nicht, dass Kazim Calisgan seine Wurzeln gekappt hätte. Fast könnte man sagen: im Gegenteil. Er hat gerade hier im Ruhrgebiet die Schnittmenge zwischen alter und neuer Heimat gefunden, zwischen Tradition und Zukunft, zwischen dem Auftrag des Großvaters und dem eigenen Gutdünken.
Kazim Calisgan ist Musiker und Manager. Er leitet das Katakomben-Theater im Girardet Haus und schätzt sich glücklich, von dem leben zu können, was er am liebsten tut. Er hat viele Freunde, türkische und deutsche, wechselt oft von Satz zu Satz die Sprache, sucht nach dem richtigen Wort, lacht über sich selbst. An dicke Soßen, Eintopf mit Bockwurst oder Königsberger Klopse mit Kartoffelpüree wird er sich wohl nie gewöhnen. Dennoch, er ist in Essen, genauer: in Rüttenscheid zu Hause – aber nicht nur.
Studium der Sozialwissenschaften
Kazim Calisgan, der Sozialwissenschaften in Bochum studierte und sich in Köln zum Kulturmanager weiterbildete, ist Alevit und gehört damit einer in der Türkei wenig geachteten und bis vor kurzem verfolgten religiösen Minderheit an. Aleviten sind die Liberalen unter den Muslimen, sie gestehen dem Einzelnen Glaubens- und Entscheidungsfreiheit und selbstverständlich ein Recht auf Bildung zu. Ihr religiöses Leben kennt nur wenige Regeln und Vorschriften. Angeleitet werden sie vom Dede, einem Geistlichen und Gelehrten, der hohes Ansehen und Vertrauen genießt.
Kazim Calisgans Großvater war ein Dede. Er hoffte, der Junge, den er in die Mystik und die Musik einführte, werde in seine Fußstapfen treten, nachdem er schon seinen Sohn, Kazims Vater, an die Verlockungen des Wirtschaftswunders verloren hatte. Kazims Eltern waren 1971/72 nach Deutschland ausgewandert, hatten den achtjährigen Sohn mit seinen beiden jüngeren Schwestern in die Obhut der Großeltern gegeben und sich in Bonn niedergelassen.
Ausreise nach Deutschland glich einer Flucht
Kazims Ausreise nach Deutschland 1980 glich einer Flucht. In der Türkei herrschte bürgerkriegsähnlicher Aufruhr; der Militärputsch stand unmittelbar bevor. Wie viele seines Alters hatte Kazim eine Meinung, die er sich nicht verbieten lassen wollte. Das war dem Großvater zu gefährlich. Er drängte Kazim, sich zu seinen Eltern in Sicherheit zu bringen. Mit Abitur und Grundkenntnissen der deutschen Sprache aus dem Unterricht fiel es dem jungen Mann nicht schwer sich einzuleben. Aber heimisch wurde er doch erst im Ruhrgebiet. „Die Menschen hier sind so locker und offen – und bunt gemischt.“
Den Erfolg, den sein Theater heute verzeichnet, hat sich Kazim Calisgan nicht ganz freiwillig erarbeitet. Eher schon kann man sagen, er war dazu verdammt. Kurz nachdem er die ersten Büroräume seiner Agentur Dervish Kulturmanagement auf der Zeche Carl eröffnet hatte, traf er einen türkischen Geschäftsmann, der eine Satirebühne in Mönchengladbach unterhielt und sich mit dieser Referenz als Betreiber des Theaters im Girardet Haus empfahl.
Calisgans Devise: Learning by doing
Er erweckte den Eindruck, genau zu wissen, wie man so etwas macht. Kazim ließ sich auf seinen Vorschlag einer Geschäftspartnerschaft ein. Nur: Das Betriebskonzept des neu benannten „Katakomben-Theaters“ funktionierte nicht. Das alte Stammpublikum blieb aus, neue Gäste kamen erst nur vereinzelt. Eines Morgens war der Mann mitsamt der Theaterbestuhlung über alle Berge, und Kazim stand mit Schulden und ohne Mobiliar vor einer Situation, auf die er keineswegs vorbereitet war.
Da galt dann die Devise: „learning by doing“ oder manchmal auch: „learning by failing“. Es hat längst nicht alles geklappt, was er probiert hat, aber Kazim ist ein Mensch, der nicht nur aus Erfolgen, sondern auch aus Fehlern lernen kann. Das einfachste Rezept erwies sich als das wirkungsvollste: „Ich brauchte nur das zu veranstalten, was ich kenne und mag. Das kommt auch beim Publikum an.“
Neue, ehrgeizige Projekte
Zum Beispiel die deutsch-türkische Comedy-Woche oder die Kubanischen Nächte, Weltmusik, Fado aus Portugal, Rembetiko aus Griechenland und andere Fernweh-Klänge, kraftvoll, urwüchsig, ergreifend – populär im besten Sinne, Jazz-Sessions oder das Masken- und Kindertheater, das Kazims Tochter liebte, als sie noch klein war. Neue und ehrgeizige Projekte sind die Kulturakademie Ruhr und die Weltmusik-Residenzen, bei denen Künstler im Katakomben-Theater gastieren und zugleich Workshops veranstalten.
Besonders genießt es der Theaterleiter, auf der eigenen Bühne zu stehen. Kazim Calisgan singt und spielt Saz, die türkische Laute, die bei den Versammlungen der Aleviten die Tänze und Gesänge begleitet. Seit Jahren schon tritt er mit dem vielseitigen Gitarristen und Geiger Andreas Heuser im Duo auf, außerdem in den multinationalen Ensembles Transorient Orchestra und Nefes in Motion.
Musik eröffnet ihm spirituelle Dimensionen
Zusammen mit dem Pianisten Utku Yurttas und dem Bassisten und Flötisten Jens Pollheide spielt er unter dem Namen Tryol Jazz und anatolische Standards. Und mit dem jüngst erst gegründeten Katakomben-Postdrama-Ensemble präsentiert er das musiklastige und bewegungsintensive, dafür wenig textgebundene Theater der gebrochenen Stücke.
Die Musik eröffnet ihm eine spirituelle Dimension. Hier fühlt er sich eins mit Gott und der Welt. So ist schließlich die Saat des Großvaters doch aufgegangen, wenn auch ganz anders, als der sich das vorgestellt hatte.