Essen. Zwischen Enttäuschung und Papas Kartoffelsalat, Schlägen und Stofftieren: Wohnungslose Jugendliche erinnern sich an das Fest in ihren Familien.

Conny* hat nicht viele Erinnerungen an Weihnachten. Ein Tannenbaum geschmückt mit Spinngeweben und Halloween-Motiven gehört dazu. Das war früher bei ihrer Mutter und den beiden Geschwistern. Zum Fest kam ihre Oma. „Der Rest kann mich mal“, sagt die 19-Jährige.

Mit 13 ist sie weg von Zuhause, hat manchmal auf der Straße geschlafen. Isomatte, Decken und Schlafsack: „Das hält warm“, sagt Conny, die nichts mehr hasst als Kälte. Jetzt kommt sie jede Nacht in die Notschlafstelle Raum 58 in der Innenstadt.

Katrin riss mit sieben Jahren aus

So wie Katrin*, die am Tisch im Gemeinschaftsraum sitzt und von vielen Geschwistern und Halbgeschwistern erzählt, die sie nicht mehr sehe. Die 14-Jährige verbringt ihre Tage auf dem Bahnhof und schnorrt die Leute an, sagt sie. Mit sieben Jahren sei sie zum ersten Mal ausgerissen, dann immer wieder. Bis sie gar nicht mehr zurückkam ins Heim, wo sie aufgewachsen ist. Dort gab es zu Weihnachten oft Stofftiere, erzählt sie. Albern findet Katrin das alles, winkt lässig ab. Stattdessen provoziert sie lieber mit Geschichten von Drogen und Knast, von ihrer neuen Welt.


Erst als ihr plötzlich die Pferde einfallen weicht ihr harter Gesichtsausdruck ganz kurz den kindlichen Zügen. Das 14-jährige Mädchen mit den schulterlangen Haaren schaut in die Runde. Geritten sei sie, Turniere sogar. In der Schule habe sie als Sanitäter anderen geholfen. Vorbei. In die Schule gehe sie seit zwei Jahren nicht mehr. „Einen Job kriege ich eh nicht, hab’ ja keinen Abschluss“, sagt sie gleichgültig.

Wünsche zu Weihnachten hat Katrin nicht. Aber einen für die Zukunft: ein Musikladen, das wäre es.

Sina kann keine Enttäuschung gebrauchen

Ihr Bruder, der darf sich alles von Sina* wünschen. „Das kann 100 Euro kosten“, sagt die 14-Jährige. Sie will lieber nichts: „Weil dann sein kann, dass ich nicht das kriege, was ich will.“ Enttäuschungen kann Sina nicht gebrauchen. Die hat sie in ihrer Pflegefamilie erlebt, in die sie mit zwei Jahren kam. Dabei habe sie sich dort erst so wohl gefühlt bei den Pflegeeltern und den beiden Geschwistern. „Weihnachten war früher schön“, erzählt Sina. Sie haben zusammen den Baum geschmückt.


„Papa hat Kartoffelsalat gemacht.“ Es war der einzige Tag im Jahr, an dem er gekocht habe. Zur Bescherung sei er nie da gewesen, weil er im Schichtdienst arbeite. Trotzdem erinnert Sina sich gern an das Fest. „Das war cool.“ Bis ihr großer Bruder Nachwuchs bekam. „Seitdem ist Weihnachten nicht mehr schön gewesen.“ Das neue Kind habe alles gekriegt, immer viel tollere Sachen als Sina, erzählt sie verletzt. „Ich bin dann einfach abgehauen, immer wieder.“ Als sie aggressiv gegen die Familienmitglieder wurde, wählte das Jugendamt ein Heim statt der Pflegefamilie für Sina. „Ich war genervt, es ging eben nicht mehr“, sagt sie. Später ist sie auch aus ihrer Wohngruppe abgehauen.

Chillen auf der Straße

Jetzt chillt sie am liebsten auf der Straße, in der Stadt oder auf dem Bahnhof: „Immer da, wo wenig Polizei ist“ , sagt sie, weil die Beamten sie mal aufgegriffen haben. „Ich habe eine Nacht in der Ausnüchterungszelle verbracht“.

Sina ist auf keiner Schule angemeldet, zu ihrer Pflegefamilie will sie nicht mehr zurück. „Das wird nichts mehr.“ Auch heute an Heiligabend nicht. Ihrer Mutter schenkt sie aber eine Schachtel Pralinen. Ihrem Vater etwas für die Carrera-Bahn. Sinas Wunsch ist es, wieder ein Zuause zu finden: in einer Wohngruppe.

Marc ist von seiner Mutter enttäuscht

Marc* kommt gerade aus Berlin, wo er bei einem Freund untergekommen ist. Die Festtage früher mit seiner Familie nennt der 19-Jährige „Pseudo-Weihnachten“. Es sei alles auf gut gemacht worden, „obwohl nichts gut gewesen ist“, sagt er. Es gab einen Tannenbaum, Pute und Geschenke. Am zweiten Weihnachtstag besuchten sie die Großeltern. So wie bei den meisten Familien. Nur dass zu Marcs Gewalt gehörte, seitdem er ein Kind war. Sein Vater schlug zu. Die Mutter sah zu. „Von ihr bin ich enttäuscht“, sagt der Sohn, der zu keinem mehr Kontakt haben will. Lieber lebt er jetzt draußen, schnorrt am Hauptbahnhof. Dabei würde Marc sich gern um seinen sieben Monate alten Sohn kümmern. Nur ließen das die Eltern seiner Ex nicht zu.


Für 2012 hat sich der junge Vater einiges vorgenommen. Den Realschulabschluss hat er bereits. Jetzt will er eine Ausbildung als Elektriker finden und sich mit dem Gesellenbrief in München selbstständig machen, erzählt er von seinen Plänen. Zu denen eine eigene Wohnung gehört. Die jetzige Ungewissheit belastet ihn. „Ich weiß nicht, was weiter passiert und ob ich am Abend einen Schlafplatz habe.“ Den Heiligabend verbringt er im Raum 58 und ist froh, wenn die Feiertage vorbei sind: „Weihnachten finde ich eher traurig.“

Conny geht, bevor es Nacht wird

Ein umgekippter Tannenbaum, fällt Conny dann doch noch zu einem Weihnachtsfest in ihrer Familie ein. Sie haben Fotos gemacht, auf denen alle zusammensitzen. „Ich mag das nicht“, sagt die 19-Jährige. Weil sie das nicht will. Dennoch besucht sie heute ihre Mutter und ihre Geschwister zu Kaffee und Kuchen. „Wir sitzen da, gucken Fernsehen, das war’s“, beschreibt Conny ihren Heiligabend. Bevor es Nacht wird, geht Conny. Es sei kein Platz mehr bei ihrer Mutter für sie.


Als die vor einigen Jahren ins Krankenhaus musste, zog Conny mit ihren Geschwistern zum Vater. Von dem will sie nichts mehr wissen. „Er hat mich angelogen“, sagt Conny, fährt mit den Fingern durch ihre Haarstoppeln und die langen Strähnen. Er habe ihr Taschengeld versprochen, wenn sie nicht ständig Party mache. Sie sei nach der Schule gleich nach Hause gekommen. Er habe sich nicht an die Abmachung gehalten, sagt Conny: „Ich habe keinen Bock mehr auf leere Versprechungen“.

"Ich brauche Geld für Fahrkarten"

Sie war dann weg. Als sie Geld für den Tierarzt brauchte, habe ihr Vater ihr wieder nicht unter die Arme gegriffen. Ihr Hund starb. Jetzt sitzt Conny allein in der Innenstadt. Alles, was sie besitzt, trägt sie in einer Tasche bei sich: eine Hose und ein zweites Paar Schuhe. Sie trinke nicht mehr, nehme keine Drogen: „Warum sollte ich?“

Sie sei ständig unterwegs in anderen Städten, kenne überall Leute. Anfang 2012 will sie wieder los, von Hamburg bis nach Österreich. Sie schnorrt nun erst für ihre Schulden beim Tätowierer. Unter ihren vielen Halsketten, Bändern und Haken sind Musiknoten in die Haut gestochen.

„Ich brauche auch Geld für Fahrkarte“, sagt Conny. Denn das Schwarzfahren hat sie gerade für 19 Tage ins Gefängnis gebracht. Sie ist erwischt worden: 55 Mal. Weil sie im Knast saß, hat Conny auch ihre Ausbildung verloren. Sie will aber immer noch Köchin werden. „Weil ich das kann“, sagt die 19-Jährige, die ein Abgangszeugnis nach der elften Klasse der Waldorfschule hat.

"Das ist doch Familie"

Heute an Heiligabend gibt es bei ihrer Mutter bestimmt Käse-Lauch-Suppe. Conny freut sich auf das Wiedersehen, sagt sie leise. „Das ist doch Familie“, der Ort, wo sie hingehen könne. Früher kam sie nicht damit klar, dass ihre Mutter oft feiern war. Nun gehen sie zusammen. „Ich habe fünf Jahre gebraucht, um diese Freundschaft aufzubauen.“ Geschenke mag Conny aber auch an Heiligabend nicht. Ihrer Mutter hat sie mal eine Voodoo-Puppe geschenkt. Es soll ihr Vater sein.

Einen Wunsch hat Conny allerdings: eine eigene Wohnung. Aber das wünsche sie sich jedes Jahr. „Immer verliere ich sie.“ Diesmal war es wohl zu laut, als ihre Freunde da waren. Und einen Ausbildungsplatz als Köchin will sie wieder finden. Ihre Mutter unterstütze sie dabei, daher ist sich Conny sicher, dass sie das schafft: „Im nächsten Jahr will ich wieder neu anfangen.“

Ein warmes Bett und ein Braten

Der Tannenbaum ist geschmückt, das Abendessen vorbereitet, die Geschenke gekauft. Wer heute an Heiligabend vor der Tür stehen wird, das weiß Manuela Grötschel nicht. Sie ist eine von zwei Teilzeitkräften, die im Raum 58 arbeiten. In der Notschlafstelle finden junge Menschen zwischen 14 und 21 Jahren eine Unterkunft für die Nacht.

Vier Nächte können die Jugendlichen anonym im Raum 58 unterkommen. An sechs Tagen in der Woche, immer ab 21 Uhr. Es gibt acht Betten, ein Bad, Waschmaschinen und Klamotten. Für ihre Ratten, Mäuse oder Hunde stehen Käfig, Einstreu und Futter bereit. Zwei Drittel derjenigen, die Unterschlupf suchen, sind Jungen. „Aber es verschiebt sich zu Gunsten der Mädchen“, sagt Manuela Grötschel. Für alle gelten feste Regeln wie die Taschenkontrolle. Alkohol, Drogen und Waffen dürfen nicht darin sein. Ab ein Uhr ist Bettruhe. Morgens nach dem Frühstück geht es wieder raus für die Jugendlichen.

Sucht als Symptom

Ein bis zwei Mal im Monat klingeln so viele, dass einige abgewiesen werden müssen. Im Jahr übernachten etwa 130 bis 170 im Raum 58. Viele kommen eine ganze Zeit lang jede Nacht, andere bleiben nur eine. Rund 20 Prozent begleiten sie in eine Therapie, zur Entgiftung oder in eine Wohngruppe. „Die Sucht ist ein Symptom bei Wohnungslosigkeit“, erklärt Manuela Grötschel. Die Jugendlichen landeten nicht auf der Straße, weil sie süchtig seien. Zu Alkohol oder Drogen greifen sie vielmehr, wenn sie erstmal auf der Straße leben. Gründe können Langeweile oder mangelndes Selbstwertgefühl sein. Viele von ihnen seien traumatisiert, wurden vernachlässigt oder haben labile Eltern, sind die nächste Hartz-IV-Generation, sagt Manuela Grötschel.

Gerade an Heiligabend haben viele Stress Zuhause und hauen ab. In der Notschlafstelle haben sie den Weihnachtsbaum geschmückt. „Einige fahren auf Weihnachten ab.“ Andere resignieren. Manche erzählen dann doch ein bisschen von früheren Festen. Im Raum 58 gibt es heute für alle Braten, weil viele der Jugendlichen nicht oft Fleisch essen, sagt Manuela Grötschel. Dank der Spenden packen sie später Geschenke aus. „Es wird schon stimmungsduselig.“