Essen. Krebskranke Männer lassen sich viel seltener beraten als Frauen. So hat die Beratungsstelle Essen die Zahl der männlichen Klienten verdoppelt.

Wie kommen wir an die Männer ‘ran? Diese Frage stellen sich die Krebsberatungsstellen bundesweit. Während sich die meisten Frauen Hilfe suchen, zögern viele Männer – obwohl sie ebenso oft an Krebs erkranken. Die Krebsberatung Essen konnte nun im Rahmen einer Studie ein Jahr lang neue Wege gehen: Das Team gewann neben Erkenntnissen auch etliche neue Klienten.

„Für uns war es ein Erfolg auf ganzer Linie“, sagt Psychologin Kathrin Bochmann von der Essener Beratungsstelle, die am Projekt „Wag es! Wege ebnen für Männer“ der Uni Mainz teilnahm. Schon bei der Auslosung hatten die Essener Glück: Sie gehörten zu den fünf der zehn teilnehmenden Beratungsstellen in der Interventionsgruppe, durften also ausprobieren, was man zuvor gemeinsam als mögliche Türöffner ersonnen hatte. Die Kontrollgruppe behielt indes die alten Routinen bei.

Essener Beratungsstelle schwört auf den „Rezeptblock“

Zu den erarbeiteten Vorschlägen gehört ein „Rezeptblock“, den die Beratungsstellen an Arztpraxen verteilten: Arzt oder Ärztin stellen das „Rezept“ aus, mit dem sie den Männern eine Beratung empfehlen. Auf dem Zettel stehen neben den Kontaktdaten der Krebsberatung auch die Themen, bei denen sie helfen kann: von der Rückkehr an den Arbeitsplatz über Sozialleistungen bis Beratung zu Schwerbehinderung. Praktische Fragen, die sich der Patient erst nach Operation und Krebstherapie stellt.

Es ist nur eine Empfehlung, aber gestaltet wie ein Rezept: Viele Männer nehmen eine Krebsberatung wahr, wenn ihr Arzt diese empfiehlt – und ihnen einen Empfehlungszettel mitgibt.
Es ist nur eine Empfehlung, aber gestaltet wie ein Rezept: Viele Männer nehmen eine Krebsberatung wahr, wenn ihr Arzt diese empfiehlt – und ihnen einen Empfehlungszettel mitgibt. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

„Wir haben festgestellt, dass man Männer besser mit Sachinformationen anspricht“, sagt Kathrin Bochmann. Das Rezept ist strenggenommen nur eine „Empfehlung“, so steht es in Rot auf dem Zettel. Doch es mache offenbar Eindruck, wenn Onkologe, Urologe oder Hausarzt so auf die Beratung hinweisen.

Männer fürchten, dass sie im Stuhlkreis sitzen sollen

Haben die Männer einmal in die Beratung gefunden, bleiben sie laut Bochmann auch da. Die sechs Frauen im Team sind Sozialarbeiterinnen oder Psychologinnen, alle haben eine psychoonkologische Zusatzausbildung und jeweils besonderes Fachwissen, etwa in Sozialrecht. Meist lassen sich die wichtigsten Anliegen in drei, vier Terminen klären; mancher Klient komme später noch mal. „Dann wissen sie ja, dass sie hier kein Stuhlkreis erwartet, sondern eine Einzelberatung.“

Viele Männer plage anfangs die Sorge, in eine „Psycho-Ecke“ zu geraten, eine Therapie machen zu sollen. Dabei sei das in den allermeisten Fällen gar nicht angezeigt, betont die Psychologin. „Wir therapieren nicht und stellen keine Diagnosen.“ Sie beruhige Ratsuchende, dass sie keineswegs an einer Depression oder einer Angststörung litten, „sondern dass sie traurig oder ängstlich sind, weil sie eine Lebenskrise durchmachen“.

Nach der erfolgreichen Behandlung flossen Tränen

Sie erinnert sich da an den Patienten, dem der Arzt nach der Akutbehandlung gesagt hatte, nun sei alles gut. „Abends beim Fernsehen liefen ihm dann die Tränen übers Gesicht, und er hielt sich für verrückt.“ Dabei sei nichts verrückt an seiner Reaktion: „Der Krebs ist für viele das erste Mal, sich mit ihrer Sterblichkeit auseinanderzusetzen.“ Das belaste auch Angehörige, die in der Beratung ebenfalls willkommen sind.

Psychotherapeuten hätten übrigens meist Wartelisten, die Krebsberatung vergebe Termine binnen längstens einer Woche: „Wir helfen schneller.“ Wenn jemand doch eine Therapie brauche, „stabilisieren wir ihn, bis er einen Platz bekommt“.

Krebsberatung und Etuf bieten „Segeln gegen Kopfkino“

Die Krebsberatung für Betroffene und Angehörige sitzt am Camillo-Sitte-Platz 3 in Essen-Huttrop und ist telefonisch erreichbar unter: 0201-895 33 27 oder per Mail an: Weitere Infos auf: www.krebsberatung-essen.de

In diesem Sommer wendet sich das Projekt „Segeln gegen Kopfkino“ wieder ausdrücklich an Männer, die durch eine Krebserkrankung belastet sind. Krebsberatung und erfahrene Segler des Etuf e.V. bieten ihnen drei Termine für ein kostenloses Schnupper-Segeln an. Gesegelt wird jeweils Donnerstag von 16 bis 19 Uhr am: 31. August; 14. September und 28. September. Ist die Teilnahme an allen Terminen nicht möglich, kann man auch an Einzelterminen teilnehmen. Es geht nicht um sportliche Höchstleistungen, sondern darum, Spaß zu haben, den Kopf frei zu bekommen. Infos/Anmeldung unter: 0201-895 33 20 oder unter der oben genannten Mailadresse.

Vor allem beruflich erfolgreiche Männer seien oft gewöhnt, Probleme selbst zu lösen, doch bei Krebs gehe das nicht. Das werde ihnen meist erst nach Behandlungsende bewusst: „Chemo-, Strahlen- und Immuntherapie sind körperlich belastend, bedeuten Stress. Da kommt der Kopf nicht zur Ruhe, da funktioniert man einfach nur.“

Männliche Krebspatienten wollen meist schnell zurück in den Beruf

Danach schonten sich viele Männer nicht mehr, wollten rasch zurück in den Beruf. Am Arbeitsplatz erlebten manche, dass sie Termine vergessen oder sich schlecht konzentrieren könnten, wie es auch Long-Covid-Patienten beschreiben. Andere erlitten gar einen Burn-out. Die Krebsberatung möchte helfen, solche Zusammenbrüche zu vermeiden und zu erklären, welche Leistungen den Betroffenen zustehen, wenn es mit der Berufsrückkehr nicht gleich klappt.

All das haben sie auch in einem neuen Flyer aufgelistet, auf dem als Titelbild ein Mann abgebildet ist und in dem nur Männer zitiert werden: „Krebsberatung bedeutet kompetente Hilfe“, sagt etwa ein 54-Jähriger: „Nicht einfach so Larifari-Gebabbel.“ Dass es auch um die Psyche gehen kann, unterschlägt das Infoblatt nicht: Da ist von Stärkung der Widerstandskraft die Rede und von der Bewältigung von Ängsten.

Gar so erfolgreich wie der Rezeptblock sei der Flyer nicht gewesen, räumt Bochmann ein. Darum wolle man die vielversprechende Kooperation mit den Ärzten fortsetzen, bevorzugt mit jenen, die bereits viele Patienten schicken. Generell machten das mehr niedergelassene Mediziner als Klinikärzte; hier brauche man offenbar noch mehr Kontakt.

Zahl der ratsuchenden Männer hat sich verdoppelt

Bei der Essener Beratungsstelle hat sich die Zahl der ratsuchenden Männer 2022 gegenüber dem Vorjahr verdoppelt. Der Männeranteil sei damit auf 33 Prozent gestiegen, 2021 lag er noch bei 26 Prozent. Zwar hätten andere Krebsberatungen – auch wegen pandemiebedingter Beschränkungen – weniger auffällige Ergebnisse erzielt. Doch der Rezeptblock verdiene eine weitere Verbreitung, so Kathrin Bochmann.

Die Essenerinnen haben außerdem noch ein Erfolgsformat, das nun zum dritten Mal angeboten wird: „Segeln gegen Kopfkino“. Bislang, sagt die Beraterin, „waren die Männer immer begeistert“. Und manche Frauen neidisch.

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