Essen. Über Long Covid wird viel gesprochen – über die Langzeitfolgen für Krebspatienten nicht. Ein Essener Aktionstag bietet Betroffenen nun Hilfe.

Die Diagnose trifft nicht nur den Patienten, sondern sein gesamtes Umfeld: Krebs – das stürzt auch Angehörige in Verzweiflung, macht Freunden Angst, lässt sie unsicher werden im Umgang mit dem Erkrankten. Und darum wendet sich die Krebsberatung Essen ausdrücklich an Betroffene und Angehörige: ganzjährig und besonders am Aktionstag am Dienstag, 30. August von 14 bis 19.30 Uhr.

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„Das ist niederschwelliger, als gleich einen Termin bei uns zu vereinbaren“, sagt Anne Rillig, die stellvertretende Leiterin der Krebsberatung Essen. „Man kann einfach kommen, sich umschauen, zuhören, Angebote kennenlernen.“ Zum Beispiel die Selbsthilfegruppe „Gut drauf durch Bewegung“, die sich einmal wöchentlich zum Walken trifft und einmal im Monat eine Wanderung organisiert. „Viele, die zu uns kommen, haben oder hatten eine Krebserkrankung und möchten sich mal mit etwas anderem beschäftigen“, sagt Andreas Murglat.

Essener Krebspatienten überquerten die Alpen

Nicht jedem liege es, sich im Stuhlkreis auszutauschen. „Manche haben sogar gesagt: ,Wenn ich gewusst hätte, dass Ihr eine Selbsthilfegruppe seid, wäre ich gar nicht gekommen.’“, erzählt Murglat. Auch ihn habe damals eher die Aussicht auf Aktion angesprochen. Da hatte er eine Darmkrebserkrankung überstanden und eine schwere Folgezeit hinter sich gelassen.

Man fällt in ein Loch. Aber wenn man wagt, sich wieder Ziele zu setzen, kommt man da raus“, sagt Andreas Murglat, der an Darmkrebs erkrankt war.
Man fällt in ein Loch. Aber wenn man wagt, sich wieder Ziele zu setzen, kommt man da raus“, sagt Andreas Murglat, der an Darmkrebs erkrankt war. © FUNKE Foto Services | Dirk A. Friedrich

Viele Außenstehende sähen in der Heilung schon das Happy End. „Klar, man hat den Darmkrebs überlebt – aber man kämpft mit den Folgen.“ In Murglats Fall mit einem Stoma (künstlichem Darmausgang). Er wusste, wie man damit umgeht, musste sich mit vielen Alltagssituationen aber erst vertraut machen. Schwerer wog: „Für mich gehörte das anfangs nicht zu mir, ich musste erst wieder mit meinem Körper ins Reine kommen.“ Murglat geriet in eine Depression.

Als er die überwand und gerade wieder am Leben teilnahm, stieß er auf die „Gut drauf“-Gruppe: „Vor der Krebserkrankung gehörte Sport und Bewegung nicht zu meinem Leben. Da aber bin ich einfach mal zur monatlichen Wanderung gegangen, und es war toll.“ Danach habe er den Muskelkater gespürt und Muskeln, die er lange nicht mehr gefordert hatte, aber auch: „Es geht! Ich kann das – und es macht Spaß.“

Das Bewusstsein, dass alle in der Gruppe mit Krebs zu kämpfen hatten, habe einen so beiläufigen wie wertvollen Austausch ermöglicht. „Es gab keine Hürden, miteinander über Ängste und Unzulänglichkeiten zu reden.“ Gleichzeitig habe man gemeinsam eine neue Lebensfreude und neue Stärken entdeckt: 2017 nahm Murglat sogar an einer Alpenüberquerung teil.

Zu Trauer und Verlassenheit gesellt sich die Wut

Für die Diplom-Sozialarbeiterin Michaela Weber-Freitag illustriert Murglats Geschichte, wie segensreich Selbsthilfe sein kann: „Es hilft, sich verstanden zu fühlen – schon das nimmt einen Teil des Leidensdrucks.“ Auf dieses Verständnis dürfe man bei Gleichbetroffenen setzen, und so rede mancher zum ersten Mal in einer solchen Runde von seinen Gefühlen, sagt Weber-Freitag von der Beratungsstelle für Selbsthilfegruppen Wiese e.V., die den Aktionstag am 30. August mitveranstaltet.

Andere Betroffene fühlen sich im Einzelgespräch wohler, fassen dort mehr Vertrauen. So wie Renate Eke, die vor einem Jahr ihren zweiten Mann verloren hat. „Es blieb uns nur wenig Zeit zwischen der Krebsdiagnose und seinem Tod.“ Eine tiefe Erschütterung für die Essenerin, die vor vielen Jahren schon den Tod ihres ersten Mannes verkraften musste. Auch damals suchte sie sich Hilfe von außen.

„Ich hatte mich so allein gefühlt: Jetzt habe ich liebe Menschen kennengelernt und weiß: Das Leben geht weiter“, sagt Renate Eke, deren Mann vor einem Jahr an Krebs gestorben ist.
„Ich hatte mich so allein gefühlt: Jetzt habe ich liebe Menschen kennengelernt und weiß: Das Leben geht weiter“, sagt Renate Eke, deren Mann vor einem Jahr an Krebs gestorben ist. © FUNKE Foto Services | Dirk A. Friedrich

„Der Freundeskreis trägt eine ganze Menge, auch jetzt wieder. Aber es gibt Dinge, an denen könnte eine Freundschaft zerbrechen“, fürchtet Renate Eke. Sie spürt ja nicht allein Trauer und Verlassenheit, sondern auch Wut, hadert mit ihrem Schicksal – und mit dem Glück der anderen: „Die sind noch zu zweit, und ich bin allein.“ Solche Gedanken könne sie in der Krebsberatung aussprechen: Die Beraterin reagiere nicht verletzt, sondern professionell und fühle sich gleichzeitig in sie ein.

Über Long Covid wird viel gesprochen – über die Langzeitfolgen für Krebspatienten nicht

„Viele Betroffene fürchten auch, dass Freunde und Bekannte irgendwann nichts mehr von ihrem Kummer hören wollen“, sagt Michaela Weber-Freitag. Diese Sorge gebe es in Selbsthilfegruppen und Krebsberatung nicht. Abgesehen davon, dass dort auch viel Praktisches geklärt werden könne, wie Anne Rillig ergänzt: ob es Reha, Krankengeld, Arbeitsunfähigkeit oder Anträge für Hilfsmittel betreffe. „Dinge, zu denen man sich schwer aufrafft, wenn man psychisch nicht so stabil ist“, wie Andreas Murglat sagt.

Während aktuell viel über die Langzeitfolgen von Corona – Stichwort Long Covid – gesprochen werde, gebe es wenig Aufmerksamkeit für die Belastungen, die Krebspatienten oft noch lange nach der Therapie quälen. „Man fällt in ein Loch“, sagt Murglat. „Aber wenn man wagt, sich wieder Ziele zu setzen, kommt man da raus.“ Auch das soll die Botschaft des Aktionstages sein: Es gibt Hilfe und die Chance, neuen Mut zu entwickeln. Renate Eke etwa ist unendlich dankbar für den Flyer der Krebsberatung, den sie im Krankenhaus bekam. „Ich hatte mich so allein gefühlt: Jetzt habe ich liebe Menschen kennengelernt und weiß: Das Leben geht weiter.“